Durch die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen der Automobilindustrie bleibt der Tier 1 ein relevanter und kompetenter Partner der Fahrzeughersteller.

Durch die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen der Automobilindustrie bleibt der Tier 1 ein relevanter und kompetenter Partner der Fahrzeughersteller. (Bild: Magna)

Im Bereich Fahrerassistenz (ADAS) und automatisiertes Fahren (AD) entwickelt sich die Automobilindustrie rasant weiter. Die immer komplexeren, hochautomatisierten Fahrfunktionen im Premiumsegment stellen höhere Anforderungen an die Sensorik, die Datenverarbeitung und die Aktuatoren. Gleichzeitig erhöhen sich die ADAS-Ausstattungsraten im Volumensegment. Heutzutage gehört ein Notbremsassistent (AEB) zur Grundausstattung bei allen Neufahrzeugen, denn gesetzliche Vorgaben wie die General Safety Regulation (GSR) auf europäischer Ebene schreiben den Einbau solcher sicherheitsrelevanten Systeme verbindlich vor. Auch Verbraucherschutzorganisationen wie Euro NCAP erhöhen stetig ihre Anforderung, um das „Vision Zero“ Ziel in der Verkehrssicherheit zu erreichen.

Viele ADAS- und AD-Funktionen bauen in ihrer Funktion aufeinander auf oder ergänzen sich. Darum bietet es sich an, die Funktionen in einer möglichst breit skalierbaren E/E-Architektur zu implementieren, die dann sowohl das Premiumsegment als auch alle anderen Fahrzeugklassen abdeckt. Damit dieses Konzept über mehrere Jahre und verschiedene Baureihen hinweg verwendet werden kann, sollte gleich die Integrationsmöglichkeit für neue Komponenten, wie verbesserte Sensoren, mitgedacht und entsprechender Puffer in den Bereichen Datenübertragung und Schnittstellen eingeplant werden. Auch sollten unterschiedliche Versionen von zentralen Steuereinheiten (CCU) einfach integrierbar sein. Nachträgliche Änderungen oder Neuentwicklungen sind aufwendig und kostenintensiv. Die Skalierbarkeit der E/E-Architektur bietet noch mehr Möglichkeiten, wenn auch Infotainment-, Body- und Chassisfunktionen einbezogen werden. Dies macht jedoch die Systembetrachtung noch komplexer, siehe Bild 1.

Bild 1: Nimmt man das Fahrzeug (Level 0) als Basis, lassen sich verschiedene Untersysteme definieren, die eine bessere Strukturierung des jeweiligen Systemkontextes ermöglichen.
Bild 1: Nimmt man das Fahrzeug (Level 0) als Basis, lassen sich verschiedene Untersysteme definieren, die eine bessere Strukturierung des jeweiligen Systemkontextes ermöglichen. (Bild: Magna)

Verschiedene Skalierungsansätze der OEMs

Je nach ADAS-/AD-Funktionsumfang (SAE-Level) unterscheidet sich die Sensorik deutlich. Eine rein GSR-basierende Grundausstattung eines Fahrzeugs lässt sich heute mit einer Smart-Kamera und einem Bewegungssensor im Lenkrad zur gesetzlich vorgeschriebenen Fahrerüberwachung (DMS) umsetzen. Durch höhere gesetzliche Anforderungen ist in den nächsten Jahren zu erwarten, dass sich diese Grundausstattung auf eine Kamera, ein Radar, eine Kamera für den Innenraum und rückwärtige Sensorik erweitert. Ein Premiumfahrzeug mit Level-3-Funktionen wie einem Autobahnchauffeur braucht hingegen eine Sensorphalanx aus bis zu elf Kameras, fünf bis sieben Radar-, je nach funktionalem Sicherheitskonzept einem oder mehreren Lidar- und acht bis zwölf Ultraschallsensoren sowie eine Innenraumsensorik für Fahrer, Beifahrer und die hinten sitzenden Passagiere.

Mit zunehmender Sensoranzahl nehmen nicht nur die Datenmengen zu, auch ihre Verarbeitung unterscheidet sich. Mit der Zielvorgabe des „Software Defined Vehicles“ werden viele Datenprozesse zentralisiert. Denn nur so lässt sich mittels Over-the-Air-Updates sicherstellen, dass ein Fahrzeug über fünfzehn Jahre hinweg auf dem aktuellen technischen Stand und somit funktionsfähig bleibt.  Es müssen lokal Datenströme von mehreren zehn Gbit/s übertragen und prozessiert werden – eine 5.000- bis 10.000-fache Datenrate eines klassischen Kamera-Radar-System basierend auf CAN FD. Auch der Umfang der Objekterkennung kann bei einem rein GSR-basierendem Fahrzeug anders sein, da es in vielen Szenarien nicht so gut funktionieren muss wie ein Mensch. Beispielsweise in einer komplexen und unübersichtlichen Fahrsituation wie einer Baustelle, kann es sich auf die Erfahrungen des Fahrers verlassen, während ein Level-3-Fahrzeug die Situation im Rahmen seines Verständnisses selbstständig regeln oder an den Fahrer übergeben muss.

Die Unterschiede zwischen einem hochautomatisierten und einem reinen GSR-Basissystem sind so signifikant, dass jedes von einer anderen E/E-Architektur profitieren würde. Damit stellt sich die betriebswirtschaftliche Frage: Wie lässt sich eine E/E-Architektur von GSR-Grundausstattung bis Level 3 am kostengünstigsten skalieren? Je nach OEM kann die Antwort darauf anders lauten:

  • Ein Fahrzeughersteller, dessen Kunden wenig Interesse an den neuesten ADAS-/AD-Funktionen haben, wird seinen Skalierungsschwerpunkt mehr auf GSR und NCAP legen und hierfür eine skalierbare Architektur entwickeln. Für die geringen Stückzahlen von Level 2+ und 3 kann es für diesen OEM Sinn machen, eine extra Ausstattungslinie mit eigener E/E-Architektur einzuführen.
  • Ein Hersteller mit einem Kundenstamm, der großen Wert auf modernste Technologie- und Komfortfeatures legt, wird dazu tendieren, in alle seine Fahrzeuge vorausschauend eine komplette L2+, L3 Architektur zu integrieren, auch um die Nachrüstung neuer Funktionen zu ermöglichen.

Skalierung auf Hardwareebene

Eine wichtige Entscheidung bei der Entwicklung einer aktuellen E/E-Architektur ist die Wahl des passenden System-on-a-Chip (SoC), dem Kern der Datenverarbeitung. Obwohl die meisten angebotenen SoC-Lösungen auf CPUs mit Arm-Architektur basieren, sind sie untereinander nicht kompatibel. Denn die digitalen Signalprozessoren, die Grafikeinheiten und die neuronalen Netzwerkkomponenten sind nicht standardisiert. Wenn Softwarekomponenten von einer SoC-Architektur auf eine andere übertragen werden, bedeutet dies viel Aufwand besonders bei der Validierung von Funktionen. Da aber viele ADAS- und AD-Funktionen aufeinander aufbauen, ist die Notwendigkeit, einzelne Funktionen innerhalb des Fahrzeugsystems zu verschieben, ein wichtiger Punkt in der Skalierbarkeit innerhalb einer SoC-Familie.

Entscheidet sich also ein Fahrzeughersteller bei seinem reinen GSR-Basissystem für ein anderes SoC als bei seinem Level 2+/Level-3 System und die beiden Architekturen sind nicht Teil einer skalierbaren Familie, dann sorgen die unterschiedlichen SoC-Lösungen für deutlich mehr Entwicklungs-, Verifizierungs- und Validierungsaufwand. Deshalb bedingt die Entscheidung eines Fahrzeugherstellers für einen SoC-Hersteller eine strategische Kooperation – insbesondere, wenn dieser auch noch verschiedene ADAS-Features zur Verfügung stellt.

Neben dem SoC ist die Skalierung der CCU – auch High Performance Computers (HPC) genannt – wichtig, da sie eine starke Wechselwirkung miteinander haben. Aufgrund der Stromversorgung und des begrenzten Bauraums lassen sich nicht beliebig viele SoCs in einem Gehäuse unterbringen, vor allem, wenn auch die thermischen Anforderungen berücksichtig werden. Daher macht es Sinn, mehrere zentrale Steuereinheiten miteinander zu vernetzen. Gerade bei Level-3-Systemen sorgen die funktionalen Sicherheitsanforderungen auch dafür, dass zwingend mehrere CCUs in ein Fahrzeug integriert werden müssen. Denn so lässt sich die Anforderung in einem Fail-Operational-System adressieren, im Bereich ADAS auch MRM (Minimum Risk Maneuvre) oder SSM (Save Stop Module) genannt.

Bild 2: Die Rechenleistung eines Systems ist primär von der Anzahl und der Konfiguration der SoCs abhängig. Eine weitere Skalierung kann erfolgen, wenn mehrere CCUs zu einem Cluster zusammengeschlossen werden.
Bild 2: Die Rechenleistung eines Systems ist primär von der Anzahl und der Konfiguration der SoCs abhängig. Eine weitere Skalierung kann erfolgen, wenn mehrere CCUs zu einem Cluster zusammengeschlossen werden. (Bild: Magna)

Struktur der Funktionen

Damit eine Skalierbarkeit auf Hardwareebene überhaupt realisiert werden kann, muss die Struktur der ADAS- und AD-Funktionen adaptierbar sein. Anforderungen an die funktionale Sicherheit und Cybersecurity-Maßnahmen sowie die Möglichkeit, Komponenten von einer E/E-Architektur in eine andere verschieben zu können, bewirken, dass die Funktionen an unterschiedlichen physikalischen Orten installiert werden. Damit besteht schon auf der funktionalen Seite die grundlegende Notwendigkeit, dass die Funktionen modular und hinreichend atomar entwickelt und beschrieben sind. So wird gewährleistet, dass eine Funktion leichter auf verschiedenen Steuergeräten implementiert und revalidiert werden kann. Je atomarer und klarer strukturiert ein System ist, desto einfacher lässt es sich updaten, warten und die Funktionen validieren. Sind alle Schnittstellen klar definiert, können einzelne Module ausgetauscht werden und eine eventuell notwendige Verifikation und Validation beschränkt sich im Idealfall auf die beeinflussten Module.

Bild 3: Überblick über die Systemstruktur einer ADAS-Funktion
Bild 3: Überblick über die Systemstruktur einer ADAS-Funktion (Bild: Magna)

Da die SoC-Architekturen der einzelnen Chiphersteller nicht von sich aus kompatibel sind, sind auch die Softwarelösungen für die verschiedenen SoCs unterschiedlich und nicht ohne Weiteres von einem Chip auf einen anderen übertragbar. Damit wird klar, dass die Fahrzeughersteller vor einer großen Herausforderung stehen, wenn sie eine skalierbare E/E-Architektur entwickeln wollen und dass häufig jeder OEM seine eigene, auf ihn zugeschnittene Lösung mit seinen Partnern erarbeitet.

Anforderungen an den Tier 1

Damit ein Tier 1 als Lieferant von grundlegenden Komponenten den OEM passend unterstützen kann, ist es wichtig, die grundlegende Gesamtbordnetzarchitektur auf Level 0 (siehe Bild 1) zu verstehen und davon abgeleitet ein spezifisches ADAS-System-Angebot (Level 10) zu erstellen. Für den Tier 1 bedeutet dies, dass er für die passende Ausrichtung seines Portfolios idealerweise ein Systemverständnis aufbaut, das über das eines einzelnen OEMs hinausgeht.

Neben dem tiefgehenden technischen Verständnis des Gesamtfahrzeuges sollte der Tier 1 sowohl schlüsselfertige Lösungen als auch eine offene Integrationsplattform anbieten, um den unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen OEMs gerecht zu werden. Gleichzeitig erfordert die aktuelle Entwicklung von E/E-Architekturen eine umfassende Systemintegrationskompetenz. Ein Tier 1 in der Rolle des Integrators muss auch Komponenten von Partnern und anderen Marktteilnehmern berücksichtigen und das Gesamtkonzept validieren können.

Magna verfügt als Systemlieferant mit Gesamtfahrzeugexpertise über genau diese Integrationskompetenz einzelner Komponenten bis hin zu einem kompletten ADAS-Level-2-System. Hardware-Agnostik ist dabei ein wichtiges Thema, denn die Funktionssoftware muss auf unterschiedlichen SoC-Architekturen integriert werden können – und das übergreifend über verschiedene Fahrzeugreihen. Der Markttrend geht bei einigen Teilfunktionen zudem in Richtung Cloud-basierter bzw. -unterstützter Lösungen, um große Datenmengen wie Kartendaten effizient managen zu können. Gleichzeitig ermöglicht die Cloud-Anbindung die vom SDV geforderte Updatefähigkeit umzusetzen. So können zum Beispiel verbesserte oder neue Funktionalitäten Over-the-Air eingespielt werden. Die Integrationsteams bei Magna arbeiten deshalb mit verschiedenen SoC-Herstellern und SW-Anbietern zum Beispiel für Middleware zusammen, um solche kundenspezifischen Lösungen darzustellen.

Systemvalidierung

Zur Integration gehört auch die Validierung des Systems. Da ein System in der Regel aus unterschiedlichen Komponenten besteht, muss der Tier 1 bei der Integration auch die Performance des Gesamtsystems optimieren und gemäß seiner Operational Design Domain (ODD) validieren. Der Integrator muss also die einzelnen Systemteile und gegebenenfalls das Gesamtsystem entsprechend anpassen können, um die gewünschte Performance sicherzustellen. Dafür braucht es nicht nur eine Integrationskompetenz, sondern auch eine tiefgehende Gesamtfahrzeugexpertise.

Für das Portfolio des Tier 1 bedeutet das, er sollte idealerweise ein breites Spektrum anbieten, das aus eigenen Lösungen und denen von Drittanbietern besteht. Denn für den OEM ist es wichtig, dass ihm verschiedene Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Magna hat es sich zum Ziel gesetzt, einen kompletten Satz an Funktionen von der GSR-Basisausstattung bis zu einem SAE-Level 2 Autobahnchauffeur anzubieten. Die E/E-Architektur dieser Funktionen kann dabei sowohl Smart-Sensorsystemen als auch auf Satelliten-Sensorsystemen mit zentraler CCU berücksichtigen, um dem OEM die für seinen Skalierungsansatz passenden Optionen zu geben. Ein Satelliten-Sensorsystem braucht im Vergleich zu den Smart-Sensoren weniger Bauraum, besteht aus kostengünstigeren Sensoren und reduziert durch die Verarbeitung der Sensorrohsignale in einer zentralen CCU die Komplexität des Systems. Für eine Skalierbarkeit der E/E-Architektur hat Magna seine Sensoren so konzipiert, dass sie sowohl in Satelliten- als auch in Smartsensorsystemen zum Einsatz kommen können. Beispielsweise eignen sich die Vision-Gen-6-Kamera und der Radarbelt von Magna für den GSR-Basisbereich bis hin zu SAE Level-3-Systemen.

Bild 4: Ein Tier 1 wie Magna entwickelt verschiedene Basislösungen, die zu einem Gesamtkonzept kombiniert werden oder als Basis für spezielle Kundenlösungen dienen können.
Bild 4: Ein Tier 1 wie Magna entwickelt verschiedene Basislösungen, die zu einem Gesamtkonzept kombiniert werden oder als Basis für spezielle Kundenlösungen dienen können. (Bild: Magna)

Damit der Tier 1 den OEM bei seinen Skalierungsanforderungen unterstützen kann, ist die Hardware-Agnostik zentral – insbesondere bei den CCUs. Magna hat sein Portfolio bereits darauf ausgerichtet und hat verschiedene Lösungen in der Serienanwendung. Idealerweise hat der Tier 1 unterschiedliche Referenzarchitekturen im Angebot, die Subsysteme einer grundlegenden E/E-Architektur sind. Diese kann dann der OEM als schlüsselfertige Lösung übernehmen oder sie dienen als Basis für speziellen Kundenwünsche. Der Hardware-Agnostik-Ansatz bietet dem OEM die Möglichkeit, einzelne Bauteile ohne große Integrationsaufwänden zu ersetzen und die gewohnte Funktions-Performance beizubehalten. Damit kann Magna einen OEM über die gesamte Lebensdauer eines Fahrzeugs und verschiedene Baureihen hinweg unterstützen.

Insgesamt wird sich zukünftig das Konzept der Zusammenarbeit zwischen OEM und seinen Zulieferern weiterentwickeln. Die klassische, hierarchische Struktur, wie sie heute noch vorherrscht, wird mehr und mehr abgelöst werden durch ein Kooperationsmodell mit einem Ökosystem aus verschiedenen Partnern.  

Bild 5: Die steigende Anzahl der Wechselwirkungen innerhalb eines Fahrzeugs und außerhalb mit seiner Umgebung bedingt neue Zusammenarbeitsmodelle zwischen den OEMs und der Zulieferindustrie.
Bild 5: Die steigende Anzahl der Wechselwirkungen innerhalb eines Fahrzeugs und außerhalb mit seiner Umgebung bedingt neue Zusammenarbeitsmodelle zwischen den OEMs und der Zulieferindustrie. (Bild: Magna)

Fazit

Durch die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen der Automobilindustrie bleibt der Tier 1 ein relevanter und kompetenter Partner der Fahrzeughersteller. Durch eine engere Zusammenarbeit wird die Branche für die passenden Lösungen sorgen. Der Erfolg eines Tier-1 wird davon abhängen, dass er nicht nur Komponenten anbietet, sondern zum Integrationspartner der OEM wird. Magna ist gut aufgestellt, um den Fahrzeugherstellern als Partner auf diesem Weg zur Seite zu stehen. (na)

Reinhard Boeswirth, Magna
(Bild: Christian Hartlmaier)

Reinhard Boeswirth

Senior Manager ADAS Systems Engineering bei Magna

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