Wie Auto-Innenraumsysteme eine neue Kontextebene schaffen
Amit BhandareAmitBhandare
Sensoren wie Kamera und Radar halten zunehmend Einzug in den Fahrzeuginnenraum. Sie ermöglichen nicht nur komplett neue Funktionen, sondern verbessern auch bestehende ADAS-Funktionen und deren Akzeptanz durch den Fahrer.Magna
Fahrzeuginnenräume werden zum Sensor-Hotspot: Radar, Kameras und biometrische Systeme liefern zusätzliche Daten für ADAS-Funktionen – und ermöglichen neue sicherheitsrelevante Anwendungen durch erweiterte Innenraumanalyse.
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Gesetzlich vorgeschriebene Erkennungssysteme zur Fahrermüdigkeit
oder -Ablenkung und zukünftige Euro NCAP-Anforderungen wie das Erkennen unbeaufsichtigter
Kinder (Child Presence Detection, CPD) sorgen dafür, dass Kamera- und
Radarsensoren nicht länger nur die Umgebung um das Auto herum analysieren,
sondern auch den Fahrzeuginnenraum. S&P Global prognostiziert ein
3,5-faches Wachstum der Verbreitung von Innenraumsensoren im Zeitraum von 2024
bis 2032. Magna entwickelt verschiedene Möglichkeiten, wie sich mit
integrierten Innenraumsensorsystemen (Interior Sensing Systems, ISS) neue
Fahrzeugfunktionen realisieren und vorhandene Fahrerassistenzfunktionen (Advanced
Driver Assistance System, ADAS) weiter verbessern lassen.
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Integrierte Innenraumsysteme
Zu den im Fahrzeuginnenraum eingesetzten Sensoren zählen (Farb-)Infrarotkameras
bzw. Time-of-Flight-Kameras, die auf den Fahrer (und Beifahrer) oder die
hintere Sitzreihe gerichtet sind, im Fahrzeugdach montierte Radarsensoren,
Ultraschallsensoren sowie biometrische Sensoren, die in das Lenkrad, den Sitz
oder andere Kontaktpunkte integriert sind. Auch Gewichts- und Druckmatten in
den Sitzen zählen zu den Innenraumsensoren, die entweder für zusätzliche
Redundanzen sorgen oder aus Kostengründen durch Radar- und Kamerasensoren mittelfristig
ersetzt werden können. Folgende Informationen können über
Innenraumsensoren ausgewertet werden:
Fahrer
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Schläfrigkeit und Müdigkeit: Blinkrate,
PERCLOS (Prozentsatz des Augenlidverschlusses), Häufigkeit des Kopfnickens
Ablenkung: Blickvektor im Vergleich
zu Straßenobjekten, Dauer des Blicks abseits der Straße, Smartphone-Nutzung
Kognitive Belastung: Korrelation der
Blickstreuung, Pupillenerweiterung, Mikroexpressionen, Variabilität der
Lenkeingaben
Fahreridentität und Verhaltensprofil: Gesichtserkennung
zur Personalisierung, biometrische Basis-Signaturen
Vitalzeichen: Herzfrequenz, Atmung,
Mikrobewegungen und Hautleitfähigkeit
Insassen
Sitzbelegung: Anzahl der Passagiere,
Sitznutzung, Sicherheitsgurtnutzung, ISOFIX-Kindersitze
Haltung und Position: Neigungswinkel,
Richtung des Vorbeugens, Out-of-Position-Haltungen
Diese zusätzliche Auswertung der im Fahrzeuginnenraum
integrierten Sensoren kann in Zukunft als weitere Kontextebene in der
Entscheidungsfindung von ADAS-Funktionen genutzt werden. Die Umgebungserkennung
der externen Sensoren wird um ein umfassendes Verständnis über Fahrer
und Insassen ergänzt und in die ADAS-Entscheidungen einbezogen. Dazu werden zunächst
die Signale der ISS-Sensoren fusioniert. Im „Interior Fusion Layer“ werden die
Daten digitalisiert, synchronisiert und miteinander abgeglichen. Beispielsweise
finden eine zeitliche Synchronisierung und Kalibrierung der heterogenen Signale
aus Sensoren mit unterschiedlichen Bildraten statt (z. B. Kamerabilder mit 30 FPS
und Radardaten mit 10 Hz). Gleichzeitig analysieren KI-basierte Algorithmen die
Signale und gleichen sie miteinander ab. In Echtzeit werden die relevanten Merkmale
aus den Sensordaten extrahiert, wie Blickvektoren, Kopfhaltung, Herzfrequenzvariabilität
oder Sitzposition. Machine-Learning-Modelle interpretieren diese Daten: Der
Fahrer ist aufmerksam oder müde, ein Insasse befindet sich außerhalb der
optimalen Sitzposition zum Airbag (Out-of-Position). Diese Information wird zusammen
mit den Zuverlässigkeitswerten an den ADAS-Domain-Controller geschickt.
Bild 1: Beispielhafter Signalfluss eines integrierten Innenraumsystems.Magna
Im ADAS-Domain-Controller werden diese Informationen (z. B.
der Fahrer ist abgelenkt) mit den Daten der externen Fahrzeugsensoren und
Kartenmaterial fusioniert. Idealerweise findet die Datenfusion auf heterogenen
SoCs (CPU + GPU + KI-Beschleuniger) mit integrierten Mechanismen zur
Überwachung der funktionalen Sicherheit statt, um eine deterministische
Steuerung zu erzielen. Allerdings variiert die Prozessorkapazität je nach
Fahrzeugklasse. Bei Einstiegsmodellen mit nur einer Innenraumkamera kann die
Datenfusion auf einem Microcontroller in der Kameraeinheit stattfinden, die
dann die Fusionsergebnisse per CAN-Signal an die ADAS-Domain-Controller weiterleitet,
um sie dort in der Entscheidungsalgorithmik zu berücksichtigen. Bei Premiumfahrzeugen,
insbesondere bei Software-defined Vehicles (SDV), kommen multimodale Sensoren
zum Einsatz, deren Daten in zonalen Steuergeräten ausgewertet werden, bevor sie
an einen zentrale ADAS-Domain-Controller geschickt werden. Dieses Zentralsteuergerät
ist in der Regel mit einem GPU-/KI-Beschleuniger ausgestattet, um die komplexen
Berechnungen und Datenfusionen effizient durchzuführen.
Bild 2: Beispiel eines ADAS-Domain-Controllers samt Sensor-Paket für ein High-End-FahrzeugMagna
Verbesserungen von
ADAS-Funktionen & automatisiertem Fahren
Bislang haben ADAS-Funktionen lediglich die
Fahrzeugumgebung in ihre Entscheidungsprozesse einbezogen. Mit den ISS-Daten
bekommen sie jetzt Echtzeit-Einblicke in die Aufmerksamkeit des Fahrers, das
Verhalten der Insassen und die Bedingungen im Innenraum. Damit erweitert sich
das Kontextbewusstsein der ADAS-Algorithmen, sodass Situationen besser
interpretiert werden können und die Systeme sicherer werden. Bild 3 zeigt eine
Verkehrssituation, in der der Fahrer die Fußgänger auf der Straße erkennt, der
von links kommende Fahrradfahrer allerdings außerhalb seines Blickfelds ist. Werden
interne und externe Sensordaten fusioniert, weiß die ADAS-Funktion, dass die
Kreuzung zwei potenzielle Gefahrenquellen beinhaltet und der Fahrer nur eine
davon erkannt hat. Je nach Systemauslegung kann eine gezielte Warnung an den
Fahrer zur Erkennung einer potenziellen Kollision erfolgen, oder
ADAS-Funktionen wie die automatisierte Notbremsfunktion (AEB) eingreifen und
zum Beispiel auch vorbeugende Insassenschutzmaßnahmen wie eine Gurtstraffung vorgenommen
werden.
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Bild 3: ADAS-Funktionen können durch ISS-Daten beispielsweise die Blickrichtung des Fahrers in ihre Entscheidungsalgorithmik einbeziehen.Magna
Weitere Beispiele für die Auslegung von ADAS-Funktionen unter
Beachtung der aktuellen Aufmerksamkeit des Fahrers sind: Lässt er seinen Blick
schweifen, können die Warnungen des Spurhalteassistenten verstärkt werden, ist
er hingegen aufmerksam, können die Warnungen unterdrückt werden. Eine AEB kann
bei einem abgelenkten Fahrer früher eingreifen als bei einem aufmerksamen. Wirkt
der Fahrer müde, kann die adaptive Geschwindigkeitsregelung den Abstand zu den
vorausfahrenden Fahrzeugen vergrößern.
Für automatisierte Fahrfunktionen ab Level 2+, bei denen die
Hände unter bestimmten Bedingungen vom Lenkrad genommen werden dürfen (Hands-off),
gibt es mittlerweile gesetzliche Regularien, welche eine Überwachung der
Fahreraufmerksamkeit und dessen Blick auf die Straße erfordern. Denn die
Fahrerüberwachung (Driver Monitoring System, DMS) stellt sicher, dass dieser in
der Lage ist, die Steuerung des Fahrzeugs wieder selbst zu übernehmen und hilft
dabei, die Übergabeprozesse zu gestalten. Mehrere Innenraumsensoren sorgen für
zusätzliche Redundanzen: Eine Kamera beobachtet, was der Fahrer während der
Hands-off-Phasen macht, während ein Radarsensor dies mit der Überwachung seiner
Vitalzeichen bestätigt. Abhängig davon, wie zukünftige Gesetze zur
Verantwortung bei autonomen Fahrzeugen aussehen, kann auch die
Insassenüberwachung wichtig werden, falls Passagiere als Rückfallebene bei
Robotaxis vorgesehen werden.
Zusätzlich ermöglichen integrierte Innenraumsensorsysteme
auch neue ADAS-Funktionen:
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Kognitiv adaptive
Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI): Warnungen und Benachrichtigungen
werden an die kognitive Auslastung des Fahrers in der aktuellen Situation
angepasst, um die Interaktion zwischen Fahrzeug und Fahrer zu verbessern. Dazu
werden Augenbewegungen, Mimik und physiologische Signale wie
Herzfrequenzvariabilität KI-gestützt und in Echtzeit interpretiert, um das aktuelle
Stresslevel des Fahrers zu bestimmen. Das adaptive Warnsystem passt daraufhin die
Häufigkeit, Intensität und Modalität (z. B. akustisch, visuell oder haptisch) von
Warnungen dynamisch an. Beispielsweise kann das System bei einem
hochkonzentrierten Fahrer die nicht-kritischen Benachrichtigungen reduzieren,
um ihn nicht unnötig abzulenken.
Adaptiver Unfallschutz: Mithilfe der ISS-Daten
können vor einer Kollision die Rückhaltesysteme wie Airbags und Gurtstraffer in
Echtzeit an die tatsächliche Sitzposition und Statur der Insassen angepasst
werden. Lehnt sich beispielsweise ein Passagier nach vorne, kann die Spannung
des Sicherheitsgurts erhöht werden, um ihn effektiver zu sichern. Auch
Out-of-Position-Fälle können berücksichtigt werden: Hat der Beifahrer zum
Beispiel seine Füße auf dem Armaturenbrett liegen, kann ihn ein normal auslösender
Airbag im Zweifelsfall mehr schaden als helfen.
Medizinische Notfallintervention: Sensoren,
die in das Lenkrad, den Sitz oder andere Kontaktpunkte integriert sind, können kontinuierlich
die Vitalzeichen des Fahrers überwachen. Wird dabei ein medizinischer Notfall
(z. B. Herzrhythmusstörungen oder Bewusstlosigkeit) erkannt, kann das System
die autonome Steuerung initiieren, um das Fahrzeug sicher zum Stillstand zu
bringen. Auch die Warnung der anderen Verkehrsteilnehmer durch die Warnblinkanlage,
das Lenken des Fahrzeugs an den Straßenrand sowie das Kontaktieren von Rettungsdiensten
sind möglich.
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Erkennung unbeaufsichtigter Kinder (CPD):
In den USA sterben laut der Organisation „Kids and Car Safety“ jährlich fast 40
Kinder an den Folgen von Hitzschlägen in überhitzten Autos. Initiativen in den
USA und Euro-NCAP fordern deshalb den Einsatz von CPD-Systemen: Kamera-, Radar-
und Gewichtssensoren in den Sitzen können überwachen, ob sich Insassen im
Fahrzeug befinden und anhand von Gewicht und Größe ein Kind klassifizieren.
Beim Parken kann das System durch den Fahrzeugzustand, wie abgeschlossene Türen
und abgeschalteter Motor, feststellen, ob ein Kind unbeaufsichtigt
zurückgelassen wurde. Wird ein Kind im Fahrzeug erkannt, nachdem der Fahrer
ausgestiegen ist, löst das System Warnungen z.B. über das HMI des Fahrzeugs aus. Möglich ist
auch das Kontaktieren von Rettungsdiensten, wenn innerhalb eines bestimmten
Zeitrahmens nicht auf die Warnungen reagiert wird.
Bild 4: Erkennung unbeaufsichtigter Kinder im Fahrzeug.Bild: Magna
ISS-Technologien für mehr Sicherheit und Personalisierung
Integrierte Innenraumsensorsysteme helfen den Fahrzeugherstellern
nicht nur bei der Erfüllung gesetzlicher Vorschriften und Anforderungen von NCAP-Ratings,
sie sind auch für die Markendifferenzierung entscheidend. Gerade der Fokus auf
Sicherheit und zuverlässige Systeme hat in einigen Märkten eine hohe Bedeutung.
Gleichzeitig können ISS-Daten dazu beitragen, die Akzeptanz von ADAS-Systemen und
dadurch die Kundenbindung zu verbessern. Denn die gesammelten Daten können zur
kontinuierlichen Verbesserung und Anpassung von Fahrzeugfunktionen und
-leistungen genutzt werden, um den Bedürfnissen und Vorlieben der Fahrer besser
gerecht zu werden und Systeme zu personalisieren.
Durch den hohen Komplexitätsgrad der Integration von ADAS
und ISS profitieren OEMs von einem Systemlieferanten. Magna ist als
Tier-1-Zulieferer sowohl für Innenraumsensoren als auch für externe
ADAS-Sensoren mit umfangreicher Erfahrung in der Sensordatenfusion und
Gesamtfahrzeugkompetenz einzigartig aufgestellt. Dieser ganzheitliche Ansatz
sorgt für hochqualitative, zuverlässige Lösungen, die den hohen Anforderungen
der OEMs und Regulierungsbehörden gerecht werden. Ziel ist dabei eine
skalierbare Architektur zu schaffen, die an die verschiedenen Fahrzeugsegmente
flexibel adaptiert werden kann. Dazu wird vom Einstiegsmodell bis zum
Premiumfahrzeug dieselbe Software verwendet, um Konsistenz in Performance und
Zuverlässigkeit zu erzielen. Die Hardware-Architektur hingegen lässt sich über verschiedenste
Prozessoren von einfachen Microcontrollern bis hin zu zentralen Domain-Controllern
skalieren.
Durch die Kompetenz von kamerabasierten Fahrer- und
Insassenüberwachungssystemen und Radarsensoren unter einem Dach, erzeugt Magna
ein nahtloses ADAS-System, das kontextbezogene und bessere Entscheidungen treffen
kann, um die Fahrzeugsicherheit weiter zu erhöhen. Zum Beispiel im Bereich DMS hat
Magna ein einzigartiges System auf dem Markt, das in den Rückspiegel integriert
ist. Diese Position ermöglicht einen ungehinderten Blick auf den Fahrer und ein
großes Sichtfeld, das auch andere Insassen abdeckt, ohne das Design im
Innenraum zu verändern. (na)
Autor
Amit Bhandare, Product Manager - Interior Sensing
Systems, Magna