Es gibt unterschiedliche Ansätze, um an Marktzahlen zu gelangen. Diese Erfahrung hat Dieter G. Weiss vor einigen Jahren gemacht. Er ist Treuhänder der Elektronikindustrie, Geschäftsführer von Weiss Engineering und tritt mit seinem Unternehmen in4ma mit Marktstatistiken und Marktanalysen für die Elektronikindustrie als Augur immer mehr in Erscheinung. Demnach erfasst das Statistische Bundesamt die Meldungen der Unternehmen mit einer vierstelligen Kodierung. Diese Klassifikation gilt europaweit, wird als NACE-Code bezeichnet (Nomenclature statistique des activités économiques dans la Communauté européenne) und unterscheidet so die verschiedenen Wirtschaftszweige. Benötigt man Produktionszahlen einzelner Wirtschaftszweige, so kann man diese beim Statistischen Bundesamt mittels der NACE-Codes abfragen (www.destatis.de).
Die Tücken der NACE-Codes
Allerdings haben diese Unterteilungen manchmal ihre Tücken, was sich am Beispiel der EMS-Unternehmen bestens erklären lässt, erläutert Dieter G. Weiss: „Die produzierenden Unternehmen sortieren sich mit ihrem Betätigungsfeld in die NACE-Codes ein. Dabei kann ein Unternehmen mehrere verschiedene NACE-Codes wählen, wenn es in verschiedenen Wirtschaftsbereichen tätig ist.“ Die Liste findet man unter folgendem Link. Die in der EMS-Industrie meist verwendeten Codes sind:
- C26.1.1 – Manufacture of electronic components
- C26.1.2 – Manufacture of loaded electronic boards
Dadurch ergibt sich eine erste „Unschärfe“: Hat sich ein EMS-Anbieter unter Code C26.1.1 oder C26.1.2 einzuordnen? Schaut man sich die Praxis an, so haben sich etwa 60 Prozent der EMS in Deutschland selbst in C26.1.1 eingruppiert. Französische Unternehmen hingegen bevorzugen überwiegend Code C26.1.2. Die verwendeten Klassifizierungen der übrigen 40 Prozent deutschen EMS-Melder findet man in über 20 (!) verschiedenen NACE-Codes.
Das ist darauf zurückzuführen, dass sich ein Unternehmen irgendwann einmal auf einen speziellen Bereich der Elektronikproduktion fokussiert hat, zum Beispiel C26.4.0 (manufacture of consumer electronics), C26.5.1 (manufacture of instruments and appliances for measuring, testing and navigation) oder C27.1.2 (manufacture of electricity distribution and control apparatus). Eine Transparenz ist kaum möglich, bekräftigt der Experte: „In diesen speziellen Bereichen bieten Unternehmen ihre Elektronikfertigungs-Dienstleistungen an und melden ihre Zahlen unter den entsprechenden NACE-Codes. Die gleichen Codes werden auch von OEMs verwendet und damit bekommt man über NACE-Codes kein sauberes Abbild des Produktionsvolumens im Segment EMS.“
Pareto-Analyse nicht anwendbar
Als zweite Methode käme eine Pareto-Analyse des Marktes in Frage, benennt der Experte als mögliche Alternative. Vilfredo Pareto, nach dem diese statistische Methode benannt ist, untersuchte vor über 100 Jahren die Verteilung des Bodenbesitzes in Italien und fand heraus, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Bodens besitzen. Dieses Prinzip nun so zu verallgemeinern, dass es auch auf die EMS-Industrie zutrifft, ist zu weit hergeholt. Dazu müsste man aus allen europäischen EMS-Anbietern die größten Unternehmen herausnehmen, die 20 Prozent der Gesamtheit der EMS-Unternehmen ausmachen und diese 20 Prozent im Detail analysieren. Zudem müsste man erst einmal wissen, wie viele EMS-Unternehmen es in Europa überhaupt gibt und wie die Verteilung nach Umsatzgruppen aussieht. Die derzeit detaillierteste Auflistung ist in Bild 1 aufgezeigt.
„Diese Auswertung beinhaltet derzeit 1622 EMS-Anbieter in Europa und sie ist leider nicht vollständig“, untermauert Analyst Dieter G. Weiss von in4ma. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung fehlen noch etwa 140 weitere Unternehmen, die meisten davon im Umsatzbereich von weniger als 2 Mio. Euro, weshalb er argumentiert: „Die Untersuchungen haben gezeigt, dass das Pareto-Prinzip nicht zu verlässlichen Zahlen führt. In Konsequenz müssen alle etwa 1760 EMS-Unternehmen untersucht werden, um eine valide Größenordnung zu haben.“ Eine entsprechende Unterteilung nach Umsatzklassen ist in Bild 2 zu sehen.
Damit stellt sich die Frage: „Sind alle veröffentlichten EMS-Markt-Zahlen nicht zu gebrauchen?“ Dazu muss man zunächst die Basis der Zahlen kennen. Zahlen für die gesamte Elektroindustrie sind über die NACE-Codes problemlos erfassbar, jedoch: Errechnete Wachstumszahlen sind kaum eins zu eins auf die EMS-Industrie übertragbar. Andere Statistiken haben zudem gelegentlich eine von Europa abweichende räumliche Erfassung, zum Beispiel EMEA (Europe, Middle East, Africa). Wieder andere erfassen weitere Produktgruppen (zum Beispiel Kabelbäume), die bei der Erfassung nach Bild 2 dann unberücksichtigt geblieben sind, wenn das Unternehmen ausschließlich Kabelbäume produziert. In dieser Statistik ist zudem genau definiert, welche Unternehmen überhaupt berücksichtigt wurden: Entwickelt ein Unternehmen beispielsweise Produkte für einen OEM, übernimmt die gesamte Montage des Gerätes (Box Building) und kümmert sich um die Logistik und den After Sales Service, produziert aber nicht die elektronischen Baugruppen, also das Bestücken der Leiterplatten mit den Bauelementen, ist es in dieser Statistik nicht erfasst.
566 EMS in DACH-Region
Sämtliche rechtlich selbstständigen Einheiten sind separat erfasst. Das bedeutet, die in Bild 1 aufgezeigten 566 Unternehmen der DACH-Region, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz entsprechen 535 EMS-Unternehmen, da manche Firmen mehrere rechtlich selbstständige Unternehmen in dieser Region besitzen. „Die EMS-Unternehmen werden mit ihren kompletten Umsätzen erfasst. Haben Unternehmen noch andere Geschäftszweige oder eigene Produkte muss eine Schätzung vorgenommen werden, wie hoch der EMS-Anteil am Gesamtumsatz ist“, unterstreicht er und merkt weiter an: „Unternehmen mit weniger als 30 Prozent EMS-Anteil am Umsatz werden nur mit dem EMS-Anteil erfasst, ansonsten mit dem Gesamtumsatz. So entfallen in Deutschland rund 5 Prozent des addierten Umsatzes aller EMS-Unternehmen auf eigene Produkte.“
Die Auswertung der europäischen EMS-Anbieter lässt sich am besten nach dem Fall des ehemaligen Eisernen Vorhangs vornehmen. Vor der Öffnung des Ostens gab es in Osteuropa so gut wie keine Elektronikfertigungs-Dienstleister, während die EMS-Anbieter im Westen oft eine deutlich längere Historie haben. So wurde zum Beispiel der größte deutsche EMS-Anbieter, Zollner Elektronik, bereits 1965 gegründet. Im Osten starteten die EMS-Unternehmen nach 1990, was sich anhand von Bild 3 für die Tschechische Republik aufzeigen lässt.
Erstaunlich ist die Tatsache, dass 62 Firmen in Tschechien ein Produktionsvolumen von gut 5 Mrd. Euro erzeugen (2016) und in Deutschland 458 Firmen nur 1 Mrd. Euro Umsatz mehr erwirtschaften. Die Erklärung ist einfach: Foxconn hat im tschechischen Pardubice ein Werk, in dem im Jahr 2016 ein Umsatz von mehr als 4,28 Mrd. Euro erwirtschaftet wurde. Wistron, Pegatron, Flex (Flextronics) und Integrated Micro-Electronics folgen auf den Rängen zwei bis fünf. In Summe erwirtschaften diese fünf international agierenden EMS-Riesen gut 4,8 Mrd. Euro Umsatz und damit knapp 94 Prozent des EMS-Umsatzes in Tschechien.
Osten als verlängerte Werkbank des Westens
Dieter G. Weiss macht auf eine weitere Herausforderung für saubere Statistiken aufmerksam: „Mehr als die Hälfte der übrigen Elektronikfertigungs-Dienstleister in Tschechien sind nur verlängerte Werkbänke von westeuropäischen EMS-Anbietern. Das Material wird von der Muttergesellschaft beigestellt, die lohnintensiven Arbeiten in Osteuropa ausgeführt und an die Muttergesellschaft zurückgeliefert. In solch einem Fall fakturiert das Werk im Osten nur die Personalkosten, Maschinenabschreibungen und die Overhead-Kosten und der eigentliche Umsatz mit dem Kunden wird im Westen fakturiert. Auch das muss bei solch einer Statistik beachtet werden.“ Derzeit sind 17 der 63 Firmen in der Tschechischen Republik solche verlängerten Werkbänke. Ihr Umsatz macht allerdings nur 1,5 Prozent vom Gesamtumsatz der tschechischen EMS-Unternehmen aus.
Strukturen des EMS-Marktes transparenter machen
Seit 12 Jahren erarbeitet Dieter G. Weiss (Weiss Engineering) die aktuellen Produktionszahlen der EMS-Hersteller in der DACH-Region und seit zwei Jahren sind die in4ma-Statistiken auf ganz Europa ausgeweitet.
Mittlerweile hat diese europäische EMS-Datenbank ein Volumen von fast 1600 Firmen, die in unterschiedlichen Fertigungstiefen als EMS oder ODM ihre Dienste den OEM anbieten. Die Strukturen des Anbietermarktes in Europa sind durch diese Datenbank erst transparent geworden. Während viele öffentlich zugängliche EMS-Datenbanken meist ungepflegt sind und Firmen enthalten, die schon seit Jahren vom Markt verschwunden sind, kann man sich in die in4ma-Datenbank nicht selbst eintragen und die Daten werden regelmäßig überprüft. Das hat den Vorteil, dass sich Maschinenhersteller, Händler und andere Nicht-EMS nicht einfach in eine Datenbank einschleusen können, um zusätzliche Aufmerksamkeit zu erlangen und damit die Datenbank fluten sowie nutzlos machen. Kontaktdaten, Umsätze, Mitarbeiter und teilweise auch Bilanzdaten und Gewinn/Verlust sind in der EMS-Datenbank von in4ma vorhanden und werden kontinuierlich überarbeitet und auf neuesten Stand gebracht. Diese Datenfülle für den europäischen EMS-Markt ist laut Dieter G. Weiss weltweit einmalig. Bisher waren diese Daten dem deutschsprachigen Markt vorbehalten. Einmal jährlich werden die aktuellen Zahlen publiziert.
Ähnlich sieht es in Ungarn und Polen aus. Die global tätigen EMS-Unternehmen Foxconn, Flex und Jabil erzielen alleine in ihren osteuropäischen Werken mehr als 32 Prozent des EMS-Produktionsvolumens in ganz Europa. Da läge es natürlich nahe, nur die globalen Elektronikfertigungs-Dienstleister zu analysieren, den „Rest“ zu schätzen und das Ganze als Pareto-Analyse darzustellen. „Dies würde jedoch zu einem völlig verzerrten Bild führen. Im Osten mag diese Vorgehensweise noch einigermaßen zutreffen, aber im Westen sieht die Welt ganz anders aus“, mahnt Weiss, der gleich nachhakt: „Die Gesamtzahl der Hersteller im Westen ist – insbesondere in Italien, Frankreich und Großbritannien – in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Wie rasant dies teilweise geschehen ist, dokumentiert er am Beispiel Großbritannien (Bild 4).
Die Umsatzanteile der EMS-Industrie in Osteuropa und Westeuropa sind fast identisch, das gesamte Produktionsvolumen der dortigen EMS lag im Jahr 2016 bei 35,26 Mrd. Euro. Deutschland ist mit gut 17,5 Prozent des europäischen Produktionsvolumens der größte EMS-Markt in Europa. Obwohl Deutschland kein Billiglohnland ist, haben 28 Prozent aller EMS-Anbieter in Deutschland eine Produktionsstätte. Die deutsche EMS-Industrie beschäftigt mehr als 32.000 Mitarbeiter. Als Erfolgsgarant zählen die räumliche Nähe zum Kunden und die hohe Qualität der Erzeugnisse.
122 Melder zur EMS-Jahresstatistik 2017
An der EMS-Jahresstatistik 2017 von in4ma Marktstrategien und Marktanalysen haben 122 Unternehmen teilgenommen, weshalb Weiss freudig anmerkt: „Diese repräsentieren 56 Prozent des Produktionsvolumens in Deutschland und Österreich sowie knapp 39 Prozent der schweizerischen Produktion.“ Während die österreichischen EMS-Anbieter und deutsche EMS-Unternehmen mit einer Umsatzspanne zwischen 20 und 50 Mio. Euro gut 11,3 Prozent Umsatzwachstum verbuchen konnten, sah es für die schweizerischen Firmen und die deutschen Unternehmen mit weniger als 20 Mio. Jahresumsatz mit 5,1 Prozent Zuwachs bescheidener aus.
Die großen deutschen EMS mit mehr als 50 Mio. Umsatz legten aufgrund von Produktionsausläufen und Produktionsverlagerungen nur bescheidene 0,3 Prozent zu. Da die großen Meldefirmen jedoch 78 Prozent des gesamten Meldevolumens ausmachen, wurde der deutsche Mittelwert massiv nach unten gezogen. In Summe prognostiziert in4ma für Deutschland in 2017 ein EMS-Wachstum von knapp 4 Prozent. Genaue Zahlen gibt es allerdings immer erst im November 2018.