Eigentlich erscheint diese exklusive Kolumne erst in der kommenden Ausgabe der elektronik industrie. Doch die aktuellen Entwicklungen rund um Nexperia und ihre möglichen Folgen für die Automobilindustrie – die stark an die Engpässe während der Corona-Zeit erinnern – haben uns veranlasst, sie bereits jetzt zu veröffentlichen. Frank Bösenberg, Geschäftsführer von Silicon Saxony, beschreibt darin eindrücklich, wo Europa beim Aufbau seiner Halbleiterindustrie steht – zwischen politischem Anspruch, globalem Wettbewerb und den Realitäten vor Ort in Dresden. Seine Einschätzung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.
Es war eine echte Sensation. In Europa hatte es fast 20 Jahre keinen Neubau einer Halbleiterfabrik mehr gegeben. Dann entschied Bosch 2017, in Dresden zu bauen. Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Wenn ich heute durch den Dresdner Norden fahre, sehe ich Kräne, Baugruben und neue Hallen. Sie sind sichtbare Zeichen dafür, dass die Halbleiterindustrie in Europa wieder wächst.
Ich bin Frank Bösenberg, seit über zehn Jahren Geschäftsführer von Silicon Saxony. Gemeinsam mit meinem Team, dem Vorstand und den über 600 Mitgliedern geben wir dem Cluster Stimme und Gesicht. Mit dieser Kolumne möchte ich künftig kommentieren, wie sich die Branche entwickelt und was das für Europa bedeutet.
Aus der Perspektive der kürzlich verstorbenen Theaterlegende Claus Peymann fühlt sich 2025 für die Branche an wie ein gebremstes Jahr. Auf der einen Seite sehen wir historische Investitionen. Die neue Fab von ESMC , einem Gemeinschaftsunternehmen von TSMC, Infineon, Bosch und NXP, liegt im Zeitplan und soll 2027 den Betrieb aufnehmen. Auch Infineons Smart Power Fab wird 2026 starten, ebenfalls planmäßig. Beide Vorhaben sind Leuchttürme des European Chips Act. Nach den Absagen von Wolfspeed und Intel sind sie die einzigen großen deutschen Projekte, die den europäischen Anspruch stützen, bis 2030 einen Marktanteil von 20 Prozent zu erreichen. Auch X-Fab hat ihre Erweiterung abgeschlossen. Hinzu kommt GlobalFoundries. Das US-amerikanische Unternehmen hat in den letzten Jahren kontinuierlich in Dresden investiert. Dem Vernehmen nach steht ein weiteres großes Investment bei GlobalFoundries Dresden an. Fun Fact: Schon jetzt produziert GlobalFoundries mit seiner 22nm FDSOI Technologie mit die kleinsten Strukturgrößen in Europa – ein Vorteil für den Cluster, aber auch ein Weckruf, wie weit Europa vom Sub-10-Nanometer-Bereich entfernt ist.
Technologische Stärke ist das neue geopolitische Kapital. Wer sie nicht aufbaut, verliert Einfluss.
Frank Bösenberg, Geschäftsführer Silicon Saxony
Damit kommen wir zur anderen Seite der Medaille. Europa und Deutschland treten auf der Stelle. Mitte Oktober 2025 gibt es noch keinen Förderbescheid aus dem Chips-Act-Call der alten Bundesregierung. Die neue Hightech-Strategie liegt vor, die Halbleiterstrategie inzwischen auch. Aber es klafft
immer noch eine Lücke zwischen Ankündigung und Umsetzung, die Investoren verunsichert und Projekte verzögert. Dafür gibt es viele Gründe. Die EU-Wahlen haben die Generaldirektionen neu besetzt, Deutschland hat im Frühjahr gewählt und die Ministerien neu sortiert. Nun sitzen Wirtschafts-, Wissenschafts-, Finanzministerium und Kanzleramt gemeinsam am Tisch. Denn Halbleiter sind längst zum geopolitischen Schauplatz geworden, auf dem es um technologische Souveränität und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit geht.
Hinzu kommen externe Schocks. Strafzölle aus Washington setzen europäische Unternehmen unter Druck, der Krieg in Europa erschwert jede Planung. Zwar arbeitet Brüssel an einem dritten IPCEI und an einem Chips Act 2, der stärker auf Resilienz und Fachkräfte zielt. Doch während andere Weltregionen Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und Verteidigung als zusammenhängende Themen begreifen, behandelt Europa sie weiterhin getrennt. Die Semiconductor Coalition, eine gemeinsame Erklärung aller 27 Mitgliedsstaaten zur Weiterentwicklung der Branche, wurde vor allem von Wirtschaftsministerinnen und Wirtschaftsministern unterzeichnet. Der vielfach beschworene Bürokratieabbau bleibt bislang ein Lippen-bekenntnis. Kein Wunder, dass die Industrie ihn besonders eindringlich einfordert.
Dresden, dessen Name Silicon Saxony übrigens 1997 von einem Amerikaner geprägt wurde, mag bei manchen ein Schmunzeln hervorrufen, ist aber zugleich ein Ort intensiver Zukunftsdiskussionen. Durch die enge Vernetzung von Wissenschaft und Industrie und die hohe Konzentration relevanter Akteure vor Ort betrachten wir Entwicklungen besonders genau – und die Erkenntnisse sind ernüchternd. Europa verliert Marktanteile, während China und die USA zulegen. Der Weltmarkt dürfte 2025 rund
700 Milliarden US-Dollar erreichen, Europas Anteil schrumpft. Unsere Stärke liegt in Nischen, etwa bei Spezialchips für Automotive, Industrie oder Medizintechnik. Doch Nischen sind kein Selbstzweck. Sie müssen strategisch verteidigt und global vermarktet werden, sonst werden sie von Schwergewichten aus Asien und Amerika aufgerollt.
2025 ist ein Jahr der Überlagerungen. Wahlen, geopolitische Spannungen und stockende Förderentscheidungen bremsen die Dynamik. Doch in dieser Gleichzeitigkeit liegt auch eine Chance. Wer Kooperationen stärkt, Fachkräfte entwickelt und den globalen Markt im Blick behält, kann die Grundlage für eine souveräne europäische Halbleiterindustrie schaffen. Dresden zeigt, dass es geht. Technologiepolitik ist längst Geopolitik. Sie entscheidet, ob Europa in Zukunft Gestalter bleibt oder Zuschauer.
Anm. d. Red.: Die Pressemeldung von Silicon Saxony zum Thema Nexperia finden Sie hier
Der Autor
Frank Bösenberg, Geschäftsführer bei Silicon Saxony
Einordnung zur Kolumne – Hintergrund Nexperia
Die Kolumne von Silicon Saxony wurde verfasst, bevor der Fall Nexperia akut wurde. Inzwischen hat Frank Bösenberg die Entwicklungen in einem LinkedIn-Post kommentiert und dort die Lage differenziert eingeordnet. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten aus seinem Beitrag – kompakt zusammengefasst.
Was ist bei Nexperia passiert?
Die niederländische Regierung hat nicht „das Unternehmen gestohlen“, sondern erstmals das Warenverfügbarkeitsgesetz von 1952 angewendet. Damit übernahm das Wirtschaftsministerium unter Vincent Karremans die operative Kontrolle über Nexperia, um riskante Technologietransfers oder Standortverlagerungen zu verhindern.
Die Eigentumsrechte bleiben bei der chinesischen Mutter Wingtech Technology – es gab keine Enteignung oder Nationalisierung, sondern eine Entmachtung der bisherigen Geschäftsführung. Eine Entschädigung wurde bislang nicht gezahlt.
Warum griff die niederländische Regierung bei Nexperia ein?
Offiziell aus Sicherheits- und Versorgungsschutzgründen. Hintergrund ist die Sorge, dass durch den chinesischen Eigentümer Wingtech strategisch relevante Halbleitertechnologien oder Produktionskapazitäten ins Ausland abfließen könnten.
Das Gesetz erlaubt in solchen Fällen die temporäre Übernahme der Managementkontrolle, ohne die Eigentumsrechte zu entziehen – ein rechtlicher Präzedenzfall.
War der Eingriff bei Nexperia Folge von US-Druck?
Nicht ausschließlich. Zwar steht Wingtech auf der BIS-Liste der USA, was politischen Druck erzeugte, doch der entscheidende Auslöser war laut Gerichtsdokumenten Fehlverhalten des CEOs Zhang Xuesheng (alias Wing).
Er ließ mit Nexperia-Geldern Wafer im Wert von 200 Mio € bei seiner eigenen Firma in China bestellen – 70 % Vorauszahlung, obwohl nur etwa die Hälfte benötigt wurde. Als der CFO widersprach, wurde ihm der Bankzugang entzogen.
Wie stark ist Nexperia vom China-Exportstopp betroffen?
Betroffen sind nur zwei Backend-Fabriken (Dongguan und Wuxi), also Werke für Verpackung und Test. Laut eigenen Daten liegt der Marktanteil von Nexperia bei unter 10 %, nicht bei den oft genannten 40 %.
Für alle Produkte existieren alternative Lieferanten, auch wenn Automotive-Zertifizierungen und Preisunterschiede den Ersatz erschweren.
Hätte Robert Habeck oder die EU den Nexperia-Fall verhindern können?
Nein. Der Fall betrifft die Backend-Fertigung, nicht die High-End- oder Advanced-Packaging-Produktion, auf die der EU Chips Act abzielt.
Diese Art von Fertigung gilt nicht als „first-of-a-kind“ und fällt auch im geplanten EU Chips Act 2 nicht unter die Förderprioritäten. Ein politischer Eingriff nach deutschem oder europäischem Vorbild wäre daher unwahrscheinlich gewesen.