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Bild 1: Reduced Order Modeling: Ein KI-Modell ersetzt Teile eines bestehenden Fahrzeugmodells. Damit lassen sich Prozesse bei der Einführung von KI deutlich beschleunigen. (Bild: Mathworks)

Derzeit erfährt die Automobilbranche eine Transformation durch künstliche Intelligenz (KI), insbesondere im Bereich autonomes Fahren, aber auch in der Batteriemodellierung, Abgasnachbehandlung oder Entwicklung von virtuellen Sensoren. Letztere sind oft weniger spektakulär und der breiten Allgemeinheit wenig zugänglich, tatsächlich aber gibt es schon viele Jahre konkrete Anwendungen in realen Fahrzeugen.

Im Folgenden werden exemplarisch einige Anwendungsbereiche und Szenarien erläutert, in denen KI bestehende Ansätze verbessert, ersetzt oder sogar neue Möglichkeiten eröffnet. Der Fokus liegt auf Anwendungen, die in der Zusammenarbeit mit Automobilherstellern und -zulieferern besonders häufig relevant sind, wobei die einzelnen Punkte sich nicht gegenseitig ausschließen:

  • Reduced Order Modeling (ROM): KI-Modelle als Alternative zu rechenintensiven physikalischen Modellen
  • Embedded AI: Bereitstellung von KI auf Umgebungen mit beschränkten Rechenressourcen
  • Virtuelle Sensoren: Ersetzen/Ergänzen von physischen Sensoren mit KI-Techniken
  • Lernende Regler: Kombination von KI-Techniken mit klassischen Regelungsstrategien

Das sind die Vorteile des Reduced Order Modeling

Ingenieure in der Automobilbranche greifen seit Jahrzehnten auf Finite-Elemente-Methoden (FEM) zurück, um komplexe dynamische Systeme abzubilden, etwa das thermische Verhalten von Bauteilen oder auch Strömungssimulationen. Diese basieren auf einer Diskretisierung der zugrundeliegenden Physik von (partiellen) Differentialgleichungen. Je nach der geforderten räumlichen und zeitlichen Auflösung und Genauigkeit verursachen FEM jedoch einen enorm hohen Rechenaufwand. Daher ergibt sich die naheliegende Frage: Lassen sich komplexe physikalische Modelle durch KI-Modelle approximieren?

Die Antwort lautet Ja. Abhängig von der geforderten Modellgüte lassen sich KI-Modelle trainieren, die die Lösung dieser Differentialgleichungen (ggf. unter bestimmten Rand- und Anfangsbedingungen) auf Basis der FEM-Simulationen erlernen. Das ist ein typisches Anwendungsbeispiel von Reduced Order Modeling (Bild 1).

Der Vorteil: Während FEM-Simulationen durchaus Stunden (oder Tage) in Anspruch nehmen können, dauern Vorhersagen des einmal trainierten KI-Modells typischerweise nur Sekunden. Man trainiert einmalig ein KI-Modell als Surrogat für die FEM-Simulation und verfügt dann über einen alternativen Berechnungsansatz, der vielleicht nicht ganz dieselbe Genauigkeit erreicht, aber Resultate um Größenordnungen schneller bereitstellt.

Das schafft die Grundlage für eine massive Verkürzung in der Entwicklungszeit, in bestimmten Fällen Echtzeitfähigkeit, was eine Verwendung derartiger Modelle etwa in Hardware-in-the-loop-Testsystemen (HiL) ermöglicht. Hier ist ein breiteres Angebot an Tools zu erwarten, die automatisiert für gegebene Gleichungen/Systeme ein Surrogatmodell trainieren können.

Schnellere Simulation bei gleicher Qualität durch ROM-Techniken

ROM-Techniken sind vielseitig einsetzbar, etwa für die Optimierung von Produktdesigns, die Erstellung von digitalen Zwillingen, für Reglerentwürfe oder zum Absichern und Testen von Systemfunktionen im HiL-Kontext. Die eingangs beschriebenen FEM-Simulationen sind dabei sowohl bei der Entwicklung von elektrischen Antrieben als auch Verbrennungskraftmaschinen eine zentrale Methode, um Frontloading im Entwicklungsprozess zu betreiben.

Internationale Forschungsprojekte haben gezeigt, wie sich aufwendige CFD-Simulationen turbulenter Vorgänge in der Brennkammer, die oft Wochen dauern können, durch neuronale Differentialgleichungsmodelle (sog. Neural ODEs) deutlich beschleunigen lassen, und das unter Beibehaltung ausreichender Modellqualität.

Derartige Fortschritte erfordern nicht nur mächtige Algorithmen, auch müssen entweder Experten aus verschiedenen Domänen zusammenarbeiten oder Spezialisten in einer Anwendungsdomäne ermächtigt sein, selbst direkt mit KI-Methoden zu arbeiten, auch wenn sie keine besonderen Vorkenntnisse in diesem Bereich haben. So können sie etwa die Auswirkungen von Hyperparameter-Optimierungen oft viel besser interpretieren als domänenfremde KI-Experten.

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Bild 2: Automatische Generierung von C Code (rechts) aus Matlab Source Sode (links) für Embedded Hardware (Bild: Mathworks)

Embedded AI: Training des Modells

Ein KI-Modell (häufig ein neuronales Netzwerk) wird auf Basis von gemessenen und/oder simulierten Daten trainiert. Dieses Modell soll später auf ein eingebettetes System (z. B. Mikrocontroller/Mikroprozessor, System on Chip usw.) portiert werden. Dabei besteht eine fundamentale negative Korrelation zwischen Modellgenauigkeit und Ökonomie in der Ausführung. Oder einfacher formuliert: Je akkurater die Modellvorhersage, desto langsamer und rechenintensiver sind typischerweise die Modelle. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Zur Bereitstellung trainierter KI-Modelle auf Embedded Hardware gibt es verschiedene Methoden wie Laufzeit-Interpreter (etwa TensorFlow Lite), Machine Learning Compiler Frameworks wie Apache TVM oder die automatische Codegenerierung in Matlab/Simulink (Bild 2).

Speicherverfügbarkeit und Rechenleistung sind auf elektronischen Steuereinheiten (ECUs) ein sehr begrenztes Gut und die KI-Modelle müssen sich diese Ressourcen mit Dutzenden anderen Regelungs-, Kontroll- und Hilfsfunktionen teilen. Es wird sozusagen um jedes Bit gekämpft, denn zusätzlicher Speicher oder Rechenleistung schlägt stets mit höheren Kosten zu Buche.

Kostendruck bremst Trend der Vollautomatisierung

Trotz der Verfügbarkeit steigender Rechenkapazitäten gerade in den letzten Jahren ist vor allem im Automobilbau ein entsprechender Kostendruck zu beobachten. Infolgedessen sind Ingenieure dazu aufgefordert, Entwicklungsziele mit preiswerten und weniger performanten Recheneinheiten in Fahrzeugen zu erreichen. Der vor einigen Jahren vorausgesagte Trend, dass Fahrzeuge im Zuge der Vollautomatisierung zu rollenden, hoch performanten Computern werden, ist somit nur begrenzt Realität geworden. Aus diesem Grund stoßen Techniken der Modellkompression und Performanceverbesserung auf besonders großes Interesse. Zu nennen sind insbesondere:

  • Quantisierung: Gleitkommaarithmetik wird in Festkomma umgewandelt (Bild 3), etwa 8-Bit Integer
  • Pruning: Die Netzwerktopologie wird ausgedünnt, also grobmaschiger
  • Prozessorspezifische Optimierungen: Schnellere Modellvorhersagen durch auf bestimmte Prozessoren zugeschnittene Optimierungstechniken und -bibliotheken

Sowohl Zulieferer als auch Hersteller bekunden starkes Interesse an diesen Technologien. Der Anbietermarkt für Softwarelösungen ist allerdings noch sehr dynamisch – eine Konsolidierung wird in den kommenden Jahren erwartet. Generell sind zunehmend gerade kleinere und schlankere Modellarchitekturen gefragt: Das Modelltraining ist damit kürzer und die Implementierung auf der Hardware einfacher, was wiederum kürzere Entwicklungszyklen erlaubt.

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Bild 3: Tool zur Quantisierung trainierter neuronaler Netzwerke auf Festpunktarithmetik (fixed-point) (Bild: Mathworks)

Was sind virtuelle Sensoren oder Softsensoren?

Der im Automobilkontext wohl häufigste Anwendungsfall für KI ist der virtuelle Sensor (auch Softsensor). Fahrzeuge erfassen zunehmend mehr Sensordaten als Grundlage für den Betrieb einer steigenden Anzahl von Fahrzeugfunktionen. Gerade bei hohen Stückzahlen verursachen die dazu benötigten Sensoren indes erhebliche Kosten. Das führt zur Überlegung, ob sich zumindest einige der gemessenen Größen (etwa die Temperatur in einem bestimmten Bauteilbereich) nicht aus anderen Größen ermitteln lassen (etwa der Temperatur aus einem benachbarten Verlauf plus einer Strom- und Spannungskurve).

Virtuelle Sensoren fallen zudem in der Regel nicht aus und müssen nicht gewartet werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, ohne jeglichen Montageaufwand per Software-Update eine neue Version des Sensors aufzuspielen. Der Bereich des virtuellen Sensors ist eng verknüpft mit Embedded AI, denn für den Einsatz im Fahrzeug muss der Sensor meist als Softwarekomponente in eines der Echtzeitsysteme des Fahrzeugs implementiert werden.

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Bild 4: Schätzung von Stickoxiden in der Abgasnachbehandlung mithilfe von KI. Messwerte in Blau, KI-Modell in Rot. (Bild: Mathworks)

Vorausschauende Planung durch lernende Regler

Vorhersagemodelle sind auch im Automobilbau vielseitig einsetzbar, etwa um den Energieverbrauch zu reduzieren: Muss ein Fahrzeug beispielsweise an einer Kreuzung gar nicht erst abbremsen und stehen bleiben, da es frühzeitig die Geschwindigkeit angepasst hat, fallen energieaufwendige Beschleunigungsmanöver beim darauffolgenden Anfahren von vornherein weg. Und das lässt sich auch auf jedes andere, noch so kleine Stellglied im Fahrzeug übertragen: Jeder elektromechanische Aktuator kann sparsamer und ressourcenschonender arbeiten, wenn vorausschauende Planung beziehungsweise Regelung unnötige Spitzen in der Stellenergie glättet. Das spart nicht nur Energie, sondern schont auch die Bauteile.

Methoden wie vorausschauende Planung und Regelung (Model Predictive Control, MPC) können die Performance vieler Systeme teilweise dramatisch verbessern. Die MPC-Methode kommt bereits seit längerem im Bereich der Prozessautomatisierung erfolgreich zum Einsatz, im Automotive-Umfeld gibt jedoch eine Reihe von Herausforderungen. Während es in der Prozesstechnik naturgemäß oft um langsame und stationäre Prozesse geht, sind Ingenieure im Automobilbereich meist mit hochdynamischen Prozessen und daraus resultierend sehr kurzen Berechnungsdauern konfrontiert.

Große Fortschritte gab es aber in den letzten Jahren im Bereich der numerischen Verfahren, was die Anwendung für viele Automotive-Regelaufgaben erst ermöglicht. Jedoch erfordern diese Verfahren eine durchaus hohe Modellgenauigkeit, die sich mit rein physikalisch motivierten Modellen nur sehr aufwendig oder gar nicht erzielen lässt. Die Kombination der modellprädiktiven Regelung mit KI-Methoden zur Modellierung von nicht ausreichend physikalisch modellierbaren Systemeigenschaften einerseits sowie von Drifteffekten über die Laufzeit andererseits ist deshalb ein sehr vielversprechender Ansatz (Bild 5).

 

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Bild 5: Modellprädiktiver Regler in Kombination mit KI-Modell (Bild: Mathworks)

Reinforcement Learning – Verstärkungslernen

Ein in mancher Hinsicht konträrer Ansatz ist auch das sogenannte Verstärkungslernen (Reinforcement Learning). Hier wird das optimale Verhalten direkt aus den Interaktionen mit der Umwelt über entsprechende „Verstärkung“ von Belohnungen erlernt, wodurch ein explizites Umweltmodell oft nicht für notwendig erachtet wird. In beiden Bereichen war in den letzten Jahren eine verstärkte Vermischung der Forschungsgebiete klassische Regelungstechnik und maschinelles Lernen zu beobachten. Diese fachübergreifenden Aktivitäten dürften zu einer deutlichen Verbreitung dieser kombinierten Methoden in der industriellen Anwendung führen, beispielsweise für die Längs- und Querregelung, die Antriebsstrangregelung oder diverse Bauteilschutzregler.

Besonders hervorzuheben ist die Möglichkeit, Vorwissen über ein System in lernende Methoden einzubringen, etwa um schwer zu modellierende Reibungseffekte oder ähnliches abzubilden oder dynamisches Verhalten über sogenannte physikalisch informierte neuronale Netze zu modellieren.

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(Bild: MathWorks)

Martin Büchel

Senior Application Engineer (Automotive), MathWorks

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(Bild: MathWorks)

Christoph Stockhammer

Senior Application Engineer, MathWorks

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