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Produktanpassungen und -abkündigungen von elektronischen Bauteilen, mechanischen Komponenten, chemischen Substanzen etc. hat es schon immer gegeben, auch zum Teil länger anhaltende Allokationen. Für erfahrene Einkäufer gehört der in Fachkreisen gerne auch als „Schweinezyklus“ bezeichnete Wechsel zwischen Überangebot und Verknappung bei Halbleiterbausteinen seit Jahrzehnten zum Arbeitsalltag. Trotzdem scheinen sich viele Industrieunternehmen erst seit Beginn der Corona-Pandemie intensiver mit den vielfältigen, von Obsoleszenz ausgehenden Risiken zu beschäftigen. Oder täuscht dieser Eindruck?

Joachim Tosberg: Der Eindruck täuscht nicht. Im Gegensatz zu unseren über 170 Verbandsmitgliedern, von denen die meisten ihre Zuliefererketten, ihre Logistik, ihre Produktionsprozesse und ihren After Sales Support schon vor zig Jahren auf Schwachstellen überprüft haben, wurde vielen anderen Unternehmen tatsächlich erst mit der Corona-Pandemie bewusst, wie fragil ihre Lieferketten sind. Während früher oft erst reagiert wurde, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war, sehen wir nun eine wachsende Bereitschaft zu proaktivem Obsoleszenz-Management. Komplett vermeiden lassen sich Versorgungslücken zwar leider auch damit nicht, aber vorausschauendes Handeln kann die Obsoleszenz- und Kostenrisiken deutlich minimieren.

Joachim Tosberg, Life Cycle Manager bei Rafi und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Industrieverbandes Component Obsolescence Group Deutschland, COGD
Joachim Tosberg, Life Cycle Manager bei Rafi und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Industrieverbandes Component Obsolescence Group Deutschland, COGD: „Während früher oft erst reagiert wurde, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war, sehen wir nun eine wachsende Bereitschaft zu proaktivem Obsoleszenz-Management.“ (Bild: COGD)

Welche Methoden bzw. Frühwarnsysteme nutzen Firmen heutzutage besonders häufig für die Vorhersage, ob bzw. wann ein Elektronikbauteil möglicherweise obsolet werden könnte?

Hilfreich sind hier sicherlich Lebenszyklus-Management-Tools wie BOM Intelligence von Accuris (früher IHS) oder die Silicon Expert-Plattform, die Echtzeitdaten und Prognosen basierend auf historischen Trends bieten. Viele Bauteilhersteller informieren ihre Kunden auch direkt über bevorstehende Produktänderungen oder -abkündigungen, jedoch variiert die Zuverlässigkeit dieser Informationen. Unerlässlich zur Minimierung von Obsoleszenz-Risiken ist die kontinuierliche Überprüfung und Aktualisierung von Stücklisten. Auch Multisourcing- und Last-Time-Buy-Strategien können Risiken deutlich reduzieren, verursachen jedoch zusätzliche Kosten. Bei Abkündigungen kann es sich auch lohnen, mit anderen Anwendern Bedarfe zu bündeln, da Hersteller in solchen Fällen ihre Entscheidung manchmal revidieren.

Wie beeinflusst die Obsoleszenz von Elektronikbauteilen die Produktentwicklungszyklen und -strategien?

Mitunter ganz erheblich, wobei hier ganz unterschiedliche Dinge eine Rolle spielen können. Wenn ein Systementwickler bei einem neuen Projekt auf Mikrocontroller und andere Schlüsselkomponenten setzt, die ihm schon seit vielen Jahren vertraut sind, kann das zwar  die Entwicklungszeit verkürzen, führt aber gar nicht selten dazu, dass diese Bauteile vor oder während der Serienfertigung nicht mehr verfügbar sind. Ein weiteres Problem für Hersteller langlebiger Geräte ist, dass die meisten Elektronikbauteilhersteller auf die Consumer-Industrie mit ihren kurzen Innovationszyklen fokussiert sind. Diese Komponenten bieten zwar viel Leistung zu günstigen Preisen, sind jedoch oft nur ein oder zwei Jahre verfügbar. Daher sollten Entwickler möglichst von Anfang an Alternativen einplanen. Wichtig sind auch Flexibilität und Modularität im Design, eine engmaschige Überwachung der Bauteilverfügbarkeit und eine kontinuierlich aktualisierte Produktdokumentation.

Um die eigenen Obsoleszenzrisiken zu minimieren, bedarf es unter anderem langfristiger zuverlässiger Partnerschaften. Welche Kriterien spielen bei der Auswahl entsprechender Lieferanten eine Schlüsselrolle?

Alle Kriterien, die bei der Auswahl eines strategischen Partners auch sonst wichtig sind. Dazu zählen erst einmal der Ruf des Lieferanten, die Produktqualität, die Lieferzuverlässigkeit und die finanzielle Stabilität. Zudem sind die Flexibilität gegenüber Kundenwünschen, die technische Innovationskraft, eine transparente Preispolitik sowie Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit entscheidend. Besonders wichtig ist die Bereitschaft zum kontinuierlichen Informationsaustausch, da dieser die Grundlage für ein effizientes Obsoleszenz-Management bildet.

Haben Sie eine Einschätzung, wie hoch die aktuellen Lagerbestände bei den Firmen sind bzw. wie die Unternehmen mit überschüssigen Beständen umgehen?

Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Wie erfolgreich ein Unternehmen seine Lagerbestände im Griff hat, hängt nicht nur von proaktiver Planung und guten Prognosetools ab, sondern auch von der Firmenphilosophie und der Finanzkraft. Viele deutsche Elek-tronikfertiger kämpfen derzeit mit einer eher schwachen Nachfrage, wodurch die Lager oft noch gut gefüllt sind. Manche Firmen versuchen deshalb, zumindest einen Teil ihrer kapitalbindenden Bestandsüberschüsse an die Lieferanten zurückzugeben, andere veräußern sie über sekundäre Märkte oder spenden sie sogar. Das verschafft den Unternehmen zwar betriebswirtschaftlich kurzfristig Luft. Trotzdem wird die Abwägung zwischen größtmöglicher Versorgungssicherheit und Minimierung der Lagerkosten aber auch künftig ein nur schwer zu bewältigender Spagat bleiben.

Welche regulatorischen Anforderungen beeinflussen die Strategien zur Handhabung von Bauteil-Obsoleszenz bzw. welchem Aufwand sind die Firmen ausgesetzt?

Die in vielen Fällen sicherlich gut gemeinten regulatorischen Vorgaben der Behörden entpuppen sich in der Praxis leider immer öfter als extrem schwer umsetzbar. Das gilt nicht nur für RoHS, Reach und die Berichtspflichten zu Konfliktmineralien, sondern vor allem auch für international unterschiedliche Umweltauflagen, Qualitäts- und Sicherheitsstandards, Konformitätsprüfungen, Zertifizierungen und Produkthaftungen. Speziell für kleinere Unternehmen wird es zunehmend schwieriger, alle regulatorischen Anforderungen rechtzeitig zu erfüllen. Aber der regelmäßige Austausch mit anderen Betroffenen, beispielsweise bei den Quartalstreffen der Component Obsolescence Group Deutschland, kann zumindest dabei helfen, sich im Paragraphen-Dschungel besser zurechtzufinden und über aktuelle gesetzliche Entwicklungen informiert zu bleiben.

Zitat

Immer öfter führen Stoffverbote dazu, dass Bauteile trotz Verfügbarkeit aufgrund von Restriktionen nicht mehr verwendet werden dürfen.

Joachim Tosberg, Life Cycle Manager bei Rafi und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der COGD

Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit sorgt inzwischen auch in der Elektronikbranche für lebhafte Diskussionen. Kann die Formel „Mehr Nachhaltigkeit gleich weniger Obsoleszenz bei Elektronikbauteilen“ aufgehen?

Schwer zu sagen. Bei langlebigen Wirtschaftsgütern wie Industrieanlagen, medizinische Geräte, Verkehrsinfrastruktur, Züge, Flugzeuge, Schiffe, Aufzüge und Windkraftanlagen ist Nachhaltigkeit seit jeher ein wichtiges Thema. Kunden erwarten Reparierbarkeit und Hard-/Software-Updates über längere Zeiträume hinweg. Deshalb hoffen wir bei der COGD natürlich, dass EU-Vorgaben wie das neue „Recht auf Reparatur“ im privaten Bereich mittelfristig auch zu einer längeren Verfügbarkeit elektronischer Bauteile führen werden. Ich bin skeptisch, lasse mich aber gerne positiv überraschen.

Wie beeinflusst die Obsoleszenz von Elektronikbauteilen die Gesamtkostenstruktur, und welche Maßnahmen werden ergriffen, um diese Kosten zu kontrollieren?

Die Obsoleszenz von Elektronikbauteilen schlägt sich nicht nur in höheren Beschaffungs- und Lagerhaltungskosten nieder. Meistens fallen darüber hinaus auch noch zusätzliche Kosten für die Suche nach alternativen Bausteinen, für aufwändige Redesigns, Neuzertifizierungen der Geräteeinheit etc. an. Wenn die Ware wegen eines fehlenden Bauteiles nicht rechtzeitig an den Kunden ausgeliefert werden kann, drohen im schlimmsten Fall obendrein sogar noch Vertragsstrafen. Den besten Schutz vor solchen oftmals nicht vorab kalkulierbaren Kostenexplosionen bietet definitiv ein proaktives Obsoleszenz-Management mit fortschrittlichen Recherche- und Prognosetools, alternativen Beschaffungsquellen und einem möglichst flexiblen Produktdesign. Im Umgang mit Obsoleszenz gilt: Agieren ist in der Regel immer günstiger als reagieren.

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Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit sorgt auch in der Elektronikbranche für lebhafte Diskussionen. Ob die Formel „Mehr Nachhaltigkeit gleich weniger Obsoleszenz bei Elektronikbauteilen“ aufgeht, ist schwierig zu beantworten. (Bild: DALL-E)

Was können Forschung und Entwicklung dazu beitragen, Obsoleszenz künftig ganz zu vermeiden oder zumindest deren negative Auswirkungen zu minimieren?

Nun, da gibt es sicherlich noch viel Optimierungspotenzial. Ich denke da beispielsweise an die Entwicklung noch langlebigerer und nachhaltigerer Materialien. Oder an eine weitere Optimierung der Lieferketten durch entsprechend intelligente und besonders leistungsfähige Supply-Chain-Management-Systeme. Ein weiteres spannendes Thema sind Tools zur Überwachung und Vorhersage von Bauteillebenszyklen. Hier werden sich dank KI möglicherweise schon sehr bald völlig neue Möglichkeiten zur frühzeitigen Erkennung potenzieller Obsoleszenz-Risiken ergeben. Aber ganz vermeiden lassen wird sich Obsoleszenz sicherlich nie.

Das Thema Obsoleszenz-Management wird uns also noch lange Zeit begleiten?

Ganz sicher, zumal sich hinter dem Begriff Obsoleszenz-Management heutzutage weit mehr verbirgt als eine kleine isolierte Abteilung, die unabhängig von anderen Unternehmensfunktionen agiert. Immer öfter führen Stoffverbote dazu, dass Bauteile trotz Verfügbarkeit aufgrund von Restriktionen nicht mehr verwendet werden dürfen, was die Obsoleszenz-Problematik verschärft. Zudem beeinflussen zunehmend auch ethische und moralische Aspekte den Einsatz von Komponenten. Da Obsoleszenz-Management nahezu alle Unternehmensbereiche von der Entwicklung über den Einkauf bis zur Produktion betrifft, sollte es als Stabsfunktion direkt bei der Geschäftsführung angesiedelt sein.

Save the date auf der electronica - 5. Obsolescence Day der COGD

Wie schützt man sich am besten vor Obsoleszenz? Was gilt es bei der Implementierung eines Obsoleszenzmanagements im eigenen Unternehmen zu beachten? Welche Methoden und Werkzeuge sind für ein effizientes reaktives Risikomanagement unentbehrlich? Antworten auf diese und viele anderen Fragen erhalten Aussteller und Besucher der electronica 2024 am Obsolescence Day 2024 .

Die vom Industrieverband COGD e.V. in Kooperation mit der Messe München organisierte Veranstaltung bietet am 15. November 2024 die Chance, sich an nur einem Tag bei 14 Mitgliedsfirmen der COGD aus erster Hand über deren pro- und reaktive Obsolescence-Strategien zu informieren.

Von 09:00 bis 13:30 Uhr erläutern auf dem PCB & EMS-Marketplace in Halle A1 zudem 12 hochkarätige Experten in sechs Vorträgen und einer anschließenden Diskussionsrunde unterschiedlichste Aspekte rund um das Thema Obsoleszenz und stellen entsprechende Problemlösungen vor.

Das komplette Forumsprogramm und weitere Details der Veranstaltung stehen demnächst unter www.cog-d.de zum Download bereit.

Die Autorin: Dipl. Ing. Dipl. Wirt. Ing (FH) Petra Gottwald

Petra Gottwald / Redaktion all-electronics
(Bild: Petra Gottwald)

Die Doppel-Ingenieurin (Textiltechnik und Wirtschaft) hat nur ein Ziel: Sie möchte Menschen für technische Themen begeistern - ob sie wollen oder nicht. So kommt es schon 'mal vor, dass sie ihren Freunden die komplexe Herstellung einer Leiterplatte in einer packenden Story erzählt oder wie man Elektronik in Textilien einbaut. Privat düst sie auf leisen Sohlen durch die Gegend, denn sie hat seit 2016 ein Faible für Elektromobilität und will mit ihrem Wissen Interessierten die Reichweitenangst beim voll-elektrischen Fahren nehmen.

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