
Auch bei x-by-Wire spielt Software die zentrale Funktion. Das wurde auf dem 27. Automobil-Elektronik-Kongress in Ludwigsburg deutlich. (Bild: Matthias Baumgartner)
Wie automatisiertes Fahren im dauerhaften Online-Mode sowie die Verzahnung von Fahrzeug und Cloud die grundlegende Architektur künftiger software-definierter Fahrzeuge (software-defined Vehicles, SDV) bestimmen, verdeutlichte Dr. Jutta Schneider, Director EE Powernet bei Mercedes-Benz. Die Verankerung dieser Funktionen in der Fahrzeugsoftware organisiert das Mercedes-Betriebssystem MB.OS. Bei Konzeption und Implementierung dieser Software war es Dr. Schneider zufolge für die Mercedes-Ingenieure von entscheidender Bedeutung, die Benutzerschnittstelle selbst in der Hand zu behalten, denn sie bestimmt das Benutzererlebnis und damit die Markenidentität. Aus demselben Grund sei es für das Unternehmen wichtig, den Zugang zu sämtlichen anfallenden Daten und die Kontrolle darüber zu besitzen – ein Standpunkt, der in der deutschen Autoindustrie mehrheitlich geteilt wird und über den im Verlauf des Beitrags nochmals die Rede ist.
MB.OS gliedert sich in die vier Domänen „Infotainment“, „Automatisiertes Fahren“, „Karosserie und Komfort“ sowie „Fahren und Laden.“ Eine funktionsübergreifende Schicht hält diese Domänen sowohl in der Software als auch in der Hardware zusammen. Die funktionalen Anforderungen an die Software schlagen sich in den Leistungsbeschreibungen für die Hochleistungs-Bordcomputer (HPC) und Sensorik nieder, in deren Zentrum die Fahrerassistenzfunktionen bis hin zum automatisierten Fahren steht. Diese Domänen sind einschließlich ihrer Verbindungen ins Backend und in die Cloud sowohl in der Hardware als auch in der Software implementiert, betonte Schneider.

Hinsichtlich der E/E-Architektur, also der Verteilung der Rechenleistung über das Fahrzeug, hat sich Mercedes für einen zonalen Ansatz entschieden. So lasse sich die Komplexität von Software und Hardware deutlich reduzieren; das Einziehen der funktionsübergreifenden Schicht namens Common Base Layer vereinfache auch die Entwicklungs- und Integrationsprozesse.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Wettbewerbssituation geht es natürlich nicht nur darum, wie die Blaupausen für die künftige Fahrzeugelektronik auf dem Papier aussehen, sondern auch darum, wie man sie in Produkte umsetzt. Hier hat Mercedes definitiv erkannt, dass keine Zeit zu verlieren ist: „Wir sehen furchtbar viele Herausforderungen,“ sagte Schneider. „Aber wir müssen viel schneller und flexibler agieren.“
Fahrzeug-Update binnen 40 Minuten
Die neueste Generation seiner Elektronik und Software stellte auch Audi vor. Ulrich Herfeld, der als Head of Whole Vehicle Engineering bei Audi für die Fahrzeug-Gesamtentwicklung verantwortlich ist, zeigte in seinem Vortrag, wohin bei den Ingolstädtern die Reise geht. Er tat dies am Beispiel des brandneuen, rein elektrisch angetriebenen SUVs Q6 e-tron, der aktuell in den Startlöchern für die Markteinführung steht. Für ihn und künftige Nachfolgemodelle hat Audi eine neue „End-to-end-electric“ Architektur entworfen, die bei Audi „e3 architecture“ heißt. Fünf Hochleistungs-Zonenrechner stellen dabei mehr als 600 neue Funktionen bereit. Diese Rechner sind so dimensioniert, dass sie künftig auch weitere Aufgaben übernehmen können. „Die eingesetzte Hardware wird für viele Jahre ausreichen,“ erklärte Ulrich Herfeld. „Wir haben zahlreiche neue Features in der Pipeline.“

Je ein HPC ist bei Audi für den Antriebsstrang, die Fahrerassistenzsysteme, das Infotainment sowie für Karosserie- und Komfortfunktionen zuständig; der fünfte Rechner managt gemeinsame Basisfunktionen sowie Connectivity und Cybersecurity. Besitzer des Fahrzeugs werden den Funktionsumfang der Software mittels Apps erweitern können, die Audi in einem eigenen Store zum Herunterladen vorhält. Großen Wert haben die Audi-Entwickler auf die Update-Fähigkeit der Software gelegt – innerhalb von 40 Minuten lasse sich ein Update der Fahrzeugsoftware herunterladen und neu flashen, verspricht Herfeld.
Save the date: 28. Automobil-Elektronik Kongress
Am 18. und 29. Juni 2024 findet zum 28. Mal der Internationale Automobil-Elektronik Kongress (AEK) in Ludwigsburg statt. Dieser Netzwerkkongress ist bereits seit vielen Jahren der Treffpunkt für die Top-Entscheider der Elektro-/Elektronik-Branche und bringt nun zusätzlich die Automotive-Verantwortlichen und die relevanten High-Level-Manager der Tech-Industrie zusammen, um gemeinsam das ganzheitliche Kundenerlebnis zu ermöglichen, das für die Fahrzeuge der Zukunft benötigt wird. Trotz dieser stark zunehmenden Internationalisierung wird der Automobil-Elektronik Kongress von den Teilnehmern immer noch als eine Art "automobiles Familientreffen" bezeichnet.
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Das Software-Ökosystem macht den Unterschied
Auch im Vortrag von Christoph Grote, der als SVP Electronics and Software Herr über die Entwicklung von Elektronik und Software bei der BMW Group ist, war das softwaredefinierte Auto mit kontinuierlicher Online-Datenverbindung der Ausgangspunkt der Überlegungen. Das SDV ist nach seiner Vorstellung in der Lage, die Grenzen des heutigen „hardware-limitierten“ Fahrzeugs zu sprengen. Deutlich wird das insbesondere am Faktor Nachrüstbarkeit – nicht nur mit hauseigener Software, sondern auch über Apps von Drittanbietern, insbesondere in den Bereichen Infotainment und digitalem Content.
Um das alles zu erreichen, sei es notwendig, ein professionelles Tooling-System und Entwicklungsprozesse einzuführen. Für die weitere Entwicklung sowie wie für die Fähigkeit zur Nachrüstung ist es aus Sicht Grotes zwingend erforderlich, branchenweite Standards zu etablieren. Ein nachahmenswertes Vorbild sieht der BMW-Manager diesbezüglich in der Telekommunikationsbranche, die diese Standards bereits eingeführt hat und lebt. Für den Aufbau eines entsprechenden standard-basierten Ökosystems nannte Grote zahlreiche Initiativen und Ansätze in der Industrie – Beispiele sind etwa Eclipse, Covesa oder das SOAEE-Projekt. „Ich bin ein Fan von Ökosystemen,“ machte Grote klar.

Nicht alle Software muss nach Auffassung Grotes im eigenen Haus entwickelt werden. „Ein voll ausgestatteter 7er ist nicht weit entfernt von 500 Millionen Code-Zeilen“, berichtet Christoph Grote aus seiner Praxis. Angesichts von derartigen Software-Umfängen wäre eine komplette Inhouse-Entwicklung der Software auch gar nicht realistisch. Zukaufen könne man überall dort, wo der Fahrzeugbenutzer nichts davon sieht – also überall jenseits von Benutzerinteraktion und Markenidentität, so Grote. Und wenn man bedenkt, dass Grote zufolge bei der Software „80 % der Arbeit unterhalb der Applikationsebene liegt“, dann wird klar, dass immenses Potenzial zum Software-Zukauf besteht.
Karten- und Cloud-Dienste von Google nutzen
Diese Signale haben die Verantwortlichen bei der Google-Tochter Geo Automotive offenbar verstanden. Wie Jørgen Behrens, Vice President & General Manager Geo Aotomotive, darlegte, will Google Fahrzeugherstellern die Möglichkeit geben, seine zahlreichen APIs sowie Karten- und Cloud-Dienste zu nutzen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Plattformen und Produkte wie Android Automotive OS, Google Automotive Services oder Google Maps Platforms könnten diskret in die tieferen Funktionalitäten von Navigations- oder Fahrerassistenzsystemen integriert werden, ohne dass das nach außen sichtbar werde. Zudem habe Google bei Verwendung im Auto auch keine Ambitionen, sein bekanntes anzeigengetriebenes Geschäftsmodell zu implementieren. „Und wir haben auch keine Pläne, das zu tun,“ stellte Behrens später in einer Podiumsdiskussion klar.

Das Spektrum der Google-Angebote für das Auto erstreckt sich mittlerweile von Sprachsteuerungen und Text-to-Speech-Funktionen über Navigationskarten bis hin zu spezifischen geographischen Informationen für Fahrerassistenzsysteme. So können diese beispielsweise dafür sorgen, dass das Fahrzeug vor einer Kurve automatisch die Geschwindigkeit verringert bzw. abbremst. Über Google Cloud Conversational können Fahrzeug-OEMs sogar Googles KI ins Auto holen. Mit dieser Strategie scheint das Unternehmen recht erfolgreich zu sein: Behrens zählte eine Vielzahl von Kunden auf – von Audi über BMW und Mercedes bis hin zu Volvo und Tesla.
Bereit für x-by-Wire
Einen speziellen Aspekt des Software-definierten Fahrzeugs (Software Defined Vehicle, SDV) beleuchtete Stephan Stass von Bosch: In seiner Präsentation zog er als „Member of the Divisional Board of Management of Chassis Systems Control, Executive Vice President“ der Robert Bosch GmbH die Verbindungslinie zwischen der elektronischen Steuerung von Bremsen, Lenkung und ähnlichen Aggregaten (X-by-Wire) zum Software-definierten Fahrzeug. Diese Technik ist zwar teilweise bereits eingeführt. Mit dem Umstieg auf das SDV sieht Stass jedoch einen Paradigmenwechsel kommen; der Fokus auf die Software bei der Fahrzeugentwicklung werde den X-by-Wire-Techniken zu einem nie dagewesenen Auftrieb verhelfen. „Diese Triggerpunkte werden genau jetzt erreicht,“ so Stass. „Wir können durch Brake-by-Wire bis zu 70 mm Platz einsparen“, hebt Stephan Stass hervor, und durch eine Kombination aus Steer- und Brake-by-Wire ließe sich ein „15 % kürzerer Bremsweg erzielen“, was er bei 80 km/h in eines Split-µ-Situation mit über 2 m quantifiziert.

X-by-Wire ermöglichen dem Bosch-Manager zufolge zahlreiche Funktionen im Fahrzeug – beispielsweise neuartige Elemente der Benutzerinteraktion sowie generell mehr Design-Freiheit. Noch wichtiger: Bisher konventionell gestaltete Baugruppen wie Lenkung und Bremse werden durch X-by-Wire zugänglich für kontinuierliche Software-Updates und damit für funktionale Erweiterungen auch nach dem Verkauf.
Einen besonders wichtigen Aspekt rund um x-by-Wire spricht er ganz zum Schluss an: „Die TCO-Gleichung ist gelöst; VMM ist ein reines Software-Produkt.“ Mit TCO kürzte er die gängige Bezeichnung Total Cost of Ownership ab, während er mit dem Begriff VMM für Vehicle Motion Management eine für viele Anwesende neue Abkürzung einführte.
Mittelfristig sieht Stass die Verlagerung der x-by-Wire-Komponenten in die Zentral- oder Zonenrechner des Fahrzeugs. Diese Entwicklung werde eine neue Ära der Mobilität formen, verhieß Stass. Bosch habe bereits begonnen, seine Entwicklungsprozesse entsprechend umzustellen.