Herr Dr. Beck, Vector Informatik ist seit drei Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Automobilindustrie. Bitte geben Sie uns einen Überblick zu Ihren Aktivitäten im Automotive-Segment.
Thomas Beck: Wir fokussieren uns im Wesentlichen auf zwei zentrale Bereiche: Entwicklungstools und Embedded-Software. Bei den Tools sprechen wir von Software- und Hardware-Produkten, die Ingenieure am Arbeitsplatz nutzen, um Automobilelektronik zu entwickeln und zu testen. Der zweite Schwerpunkt liegt auf Embedded-Software, die direkt im Fahrzeug läuft, und darauf, die Hersteller mit Basissoftware auszurüsten – als Grundlage, um ihre eigenen Anwendungen darauf aufzubauen. Unsere Mission als Enabler ist es, unsere Kunden in die Lage zu versetzen, ihre Produkte effizienter und kostengünstiger auf den Markt zu bringen. Dabei bleiben wir unabhängig von spezifischen Anwendungsgebieten und sorgen dafür, dass unsere Kunden, ob OEMs oder Zulieferer, das notwendige Software-Ecosystem zur Verfügung haben, um selbst innovativ zu sein.
Vector wurde 1988 gegründet. Welche Meilensteine haben Ihre Rolle in der Automobilindustrie geprägt?
Thomas Beck: Die Gründung von Vector fiel in eine Zeit, in der Elektronik und vor allem auch Software mehr und mehr ins Automobil integriert wurden. Die Autoindustrie erkannte das Potenzial für neue Sicherheits- und Komfortfunktionen. Die Entscheidung, Elektronik und Software in großem Umfang zu integrieren, war sicherlich der Schlüsselmoment für uns. Danach bedeutete jede Innovation weiteres Marktpotenzial. Der erste große Meilenstein in diesem Sinn war die Einführung der CAN-Vernetzung, für die wir Entwicklungswerkzeuge und Software bereitgestellt haben. Später folgten AUTOSAR und Ethernet und damit immer neue Anforderungen an das Testen und Verifizieren von Systemen. Eine besondere Dynamik brachten dann der Trend zum Connected Car und später das Software-Defined Vehicle, womit das Fahrzeug selbst zu einer Plattform für kontinuierliche Software-Updates wird.
Das SDV also als große Chance für Sie – wie positioniert sich Vector in diesem neuen softwarezentrierten Umfeld?
Matthias Traub: Für uns birgt das Software-Defined Vehicle ein riesiges Potenzial, das wir in unserer Rolle als Enabler nutzen wollen. Aus der Transformation der Automobilindustrie folgt die Notwendigkeit, dass sich sowohl die OEMs als auch die Zulieferer neu orientieren müssen – um dann beispielsweise selbst immer tiefer in die Softwareentwicklung einzusteigen. Unser Anspruch ist es, ihnen das Fundament für ihren Erfolg zu geben. Wir liefern die Bausteine für ihre Software-Plattform und für die Implementierung von neuen Applikationen, sei es für schnelle, sichere Diagnosen, Over-the-Air-Updates oder Safety. Wichtig ist, dass wir uns sowohl auf der OEM-Seite – wo wir beispielsweise als Partner am Mercedes-Benz-OS mitarbeiten – als auch bei den Tier-1- Zulieferern als Partner positionieren.
Alles Infos zur Konferenz Automotive Software Strategy
Am 21. und 22. Mai 2025 findet die 5. Konferenz Automotive Software Strategy statt. Zu den Themen zählen unter anderem das Software-Defined Architectures, intelligentes Datensammeln sowie Safety&Security. Aber nicht nur die Vorträge stehen im Vordergrund.
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So viel zu den Chancen. Aber welche Risiken birgt dieser neu arrangierte Markt?
Thomas Beck: Die größte Herausforderung besteht derzeit darin, dass die Industrie noch keinen klaren Konsens darüber hat, wie sie das Thema SDV angehen will.
Mit ‚Industrie‘ meinen Sie die Autobauer?
Thomas Beck: Die Strategien der OEMs variieren stark; sie verfolgen ganz verschiedene Ansätze. Manche Hersteller wollen alles selbst machen, während andere auf eine klassische Zusammenarbeit mit Zulieferern setzen. Oft ist noch völlig unklar, welche Rolle die OEMs einnehmen wollen oder müssen, um ihre Produkte wettbewerbsfähig in den Markt zu bringen. Hinzu kommt, dass häufig unterschätzt wird, wie komplex Softwareentwicklung sein kann.
Matthias Traub: Wir sehen, dass einige Unternehmen sich viel zu schnell zu viel zutrauen und merken, dass es ihnen an Know-how und Erfahrung fehlt. Es benötigt viel Zeit und Freiraum, um die notwendigen Kenntnisse, Teams und Prozesse aufzubauen. Die Folge ist dann ein Tal der Tränen – sie erkennen, dass die Transformation weitaus schwieriger ist als zunächst angenommen. Denn es reicht nicht, nur ein paar Softwareexperten einzustellen; die ganze Organisation muss sich auf Softwareentwicklung ausrichten. Etwa im Einkauf, in den Fahrzeugbaureihen und im Qualitätsmanagement, das beispielsweise künftig iterativ agieren muss, bis eine Safety-Freigabe erfolgt. Das ist ein großer Knackpunkt: Es wurde bisher oft unterschätzt, dass es mehrere Jahre dauert, bis eine Organisation zum Softwareunternehmen wird, also bis sie ein echtes Software-Ownership erreicht.
Überschätzen OEMs ihre eigenen Fähigkeiten?
Thomas Beck: OEMs besitzen ein gewaltiges Know-how bei Motoren oder elektromechanischen Plattformen. Bei Software sind die Fähigkeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einige haben in ihren Organisationen über viele Jahre Schritt für Schritt Software-Kompetenz aufgebaut, andere versuchen es mit einem Big-Bang-Ansatz oder brauchen mehrere Anläufe.
Sehen Sie denn wirklich eine reale Gefahr, dass OEMs an dieser Transformation scheitern?
Thomas Beck: Ja, die Gefahr ist real. Das Risiko ist hoch. Wenn man sich nicht klar darüber ist, was man selbst leisten kann und wo man besser auf Partnerschaften setzen sollte, kann das definitiv zum Scheitern führen. Die Transformation von einem Maschinenbauer zu einem Softwareunternehmen traue ich allen unseren Kunden zu. Wirklich allen. Viele Ansätze, die wir heute beobachten, sind gut und können auch gut gehen – sofern das Management die Gesamtkomplexität versteht. Aber andernfalls ist das Scheitern vorhersehbar.
Matthias Traub: Der Weg zu softwaredefinierten Fahrzeugen ist komplex und erfordert fundiertes Know-how. Eine nachhaltige Strategie und die richtigen Partner ermöglichen es den OEMs, diese Transformation erfolgreich zu bewältigen. Die Zukunft liegt in einem ausgewogenen Ansatz mit vielen kooperativen Anteilen. Wir sehen es als unsere Aufgabe, unsere Partner dabei zu unterstützen, die richtigen Schritte in der richtigen Reihenfolge zu tun. Es geht darum an vielen Stellen die Themen gemeinsam im Sinne einer SDV-Community anzugehen.
Was unterscheidet Sie dabei vom Wettbewerb?
Matthias Traub: Unser Alleinstellungsmerkmal sind drei Facetten: erstens die Software-Plattform – der sogenannte SDV-Stack, zweitens die Werkzeuge, die eine Software Factory benötigt – wir wissen aus unseren internen Projekten, wie ein Software-Entwicklungsprozess umzusetzen ist und wie die Rollen darin zu verteilen sind. Daraus ergibt sich unser drittes Asset, unsere Advisory and Support Services, die eine Voraussetzung sind, um unser Know-How auch wirkungsvoll zum Kunden transferieren zu können.
Save the date: 29. Automobil-Elektronik Kongress
Am 24. und 25. Juni 2025 findet zum 29. Mal der Internationale Automobil-Elektronik Kongress (AEK) in Ludwigsburg statt. Dieser Netzwerkkongress ist bereits seit vielen Jahren der Treffpunkt für die Top-Entscheider der Elektro-/Elektronik-Branche und bringt nun zusätzlich die Automotive-Verantwortlichen und die relevanten High-Level-Manager der Tech-Industrie zusammen, um gemeinsam das ganzheitliche Kundenerlebnis zu ermöglichen, das für die Fahrzeuge der Zukunft benötigt wird. Trotz dieser stark zunehmenden Internationalisierung wird der Automobil-Elektronik Kongress von den Teilnehmern immer noch als eine Art "automobiles Familientreffen" bezeichnet.
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Themenwechsel: Sie erwähnten eingangs AUTOSAR als wichtigen Meilenstein. Wo sehen Sie den Unterschied zu heutigen Open-Source-Ansätzen?
Thomas Beck: Open-Source ist ein zweischneidiges Schwert. Es gibt sehr erfolgreiche Open-Source- Projekte, die innerhalb eines Kerns brillanter Köpfe entstanden und über Jahre hinweg gereift sind. Linux und Linus Torvalds – oder Eclipse und Erich Gamma. Die erfolgreiche Einführung von Open Source in großem Maßstab benötigt viel Zeit.
Matthias Traub: Im Kern geht es der Automobilindustrie darum, in schnellen iterativen Zyklen Software zu entwickeln und in die Fahrzeugflotte zu bringen. Weiterhin spielt die enge Zusammenarbeit auf Code-Basis zwischen den entwickelnden Partnern eine wichtige Rolle. Seitens Vector sind wir daher in der Eclipse-SDV-Initiative als Strategic Member mit dabei, um aktiv mit den anderen Partnern an Komponenten des SDV-Stacks und einem Zusammenarbeitsmodell zu arbeiten. Weiterhin unterstützen wir COVESA und AUTOSAR.
Thomas Beck: AUTOSAR war ein Beispiel für gelungene Kooperation zwischen OEMs und Zulieferern, bei der es eine klare Struktur und Zielsetzung gab. In der Automobilbranche sind kurze Reaktionszeiten entscheidend; die Industrie kann sich diese Langsamkeit nicht leisten. Das bisherige Open-Source-Modell ist hierfür oft zu schwerfällig und zu langsam. Hier gilt es gemeinsam anzusetzen. Die Hersteller brauchen vielmehr vollständige Kontrolle über den Code und die Entwicklung, etwa wenn es um sicherheitskritische Anwendungen geht. Die Zukunft liegt eher in einer engeren Zusammenarbeit zwischen OEMs und Zulieferern, bei der es um Standardisierung und gezielte Kooperation geht.
Matthias Traub: Aus diesem Grund bieten wir unseren Partnern im ersten Schritt die Möglichkeit des Zugriffs auf unsere Repositories, um aktiv auf Code-Ebene effizient zusammenzuarbeiten und wir sind mit einigen Open-Source-basierten Lösungen unterwegs, Stichwort: SiL-Kit und Application Framework.
Die Zusammenarbeit zwischen OEMs und Zulieferern ist also im Wandel begriffen. Welche Rolle spielt das Thema Haftung dabei?
Thomas Beck: Haftung ist ein Thema, das in der Softwareindustrie grundsätzlich anders gehandhabt wird. In der Vergangenheit haben OEMs häufig versucht, die Haftung auf die Zulieferer abzuwälzen – was in der Automobilindustrie durch einen gewissen wirtschaftlichen Druck möglich war. In der Softwareentwicklung funktioniert das nicht mehr. Der OEM ist der Inverkehrbringer des Fahrzeugs und muss die Verantwortung auch für die Software übernehmen. Wenn ein Fehler in der Software auftritt, muss der OEM in der Lage sein, schnell zu reagieren und die Software zu aktualisieren. Das traditionelle Konzept der Haftung, wie wir es in der Vergangenheit kannten, wird in Zukunft keine große Rolle mehr spielen, weil es in der modernen Softwareentwicklung keinen Stellenwert hat.
Von SDV verspricht sich die Industrie neue Geschäftsmodelle, Stichworte sind Functions-on-Demand und Over-the-Air Updates. Wie verändert das die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Ihren Kunden?
Matthias Traub: Sie verändert sich deutlich. Früher haben OEMs und Zulieferer häufig nach dem Handshake-Prinzip gearbeitet: Der Zulieferer entwickelte eine Lösung, der OEM übernahm diese und setzte sie in seine Systeme ein. Heute geht es mehr und mehr darum, gemeinsam an der Entwicklung zu arbeiten, oft auf Codeebene. Ein Beispiel ist der Code-First-Ansatz, bei dem OEMs und Zulieferer parallel am gleichen Repository arbeiten und sich sofort auf Codeebene abstimmen. Das beschleunigt nicht nur die Entwicklung, sondern bringt auch eine höhere Effizienz und Robustheit in die Systeme. Die klassischen Spezifikationsphasen, in denen alles bis ins kleinste Detail vorab festgelegt wurde, gehören der Vergangenheit an.
Wie gehen Sie bei Vector mit dem Thema Cyber Security um?
Thomas Beck: Cybersicherheit ist für uns ein zentrales Thema. Es gab vor einigen Jahren eine große Umstellung, als die Kommunikation im Fahrzeug und zwischen Fahrzeug und Cloud auf verschlüsselte Systeme und Zertifikatsmanagement transferiert wurde. Seitdem haben wir im Bereich der Security große Fortschritte gemacht. Bei Vector bieten wir sowohl Lösungen für die Sicherheit in Embedded-Systemen als auch für Cloud-Anwendungen an. Besonders wichtig ist es, dass unsere Systeme nicht nur sicher, sondern auch skalierbar und effizient bleiben. Cybersicherheit ist kein einmaliges Projekt, sondern ein kontinuierlicher Prozess.
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen. Was können wir in nächster Zeit von Vector erwarten?
Matthias Traub: Die Zukunft wird stark von den Themen Cloud und Software Factory geprägt sein. Wir arbeiten daran, unsere Lösungen für End-to-End-Prozesse zu erweitern, also von der Embedded-Software über die Cloud bis hin zur vollständigen Integration der Systeme. Ein weiteres großes Thema wird die Automatisierung der Entwicklungsprozesse sein. Die Vision der Software Factory bedeutet, dass wir eine vollautomatisierte Entwicklungskette schaffen, die es unseren Kunden ermöglicht, ihre Softwareentwicklungsprojekte effizient und skalierbar umzusetzen. Es wird also künftig im Wesentlichen darum gehen, Prozesse zu automatisieren und Entwicklungszyklen weiter zu verkürzen.
Gibt es konkrete Schritte, die Sie bereits umgesetzt haben?
Matthias Traub: Ja, wir haben in diesem Jahr auf der CES in Las Vegas bereits erste Prototypen einer vollständigen End-to-End-Lösung gezeigt und in ersten Pilotprojekten bei OEMs umgesetzt. Unsere Vision ist es, eine durchgängige Entwicklungsumgebung zu schaffen, in der OEMs und Zulieferer nahtlos zusammenarbeiten können. Diese Schritte zeigen bereits, wohin die Reise geht, und wir werden demnächst viele weitere Innovationen in diese Richtung sehen.
Noch eine Frage das Unternehmen betreffend: Sind die kürzlichen Wechsel in der Geschäftsführung von Vector Informatik als Antwort auf die neuen Herausforderungen des Markts zu verstehen?
Thomas Beck: Ja und nein. Einerseits sind die Änderungen in unserer Geschäftsführung ein ganz normaler Generationswechsel. Thomas Riegraf ist Mitte des Jahres in den Ruhestand gegangen, und im Vorfeld war zunächst offen, ob wir einen oder zwei neue Geschäftsführer berufen würden. Dann ist die Entscheidung für Dr. Volker Wetekam als direkter Nachfolger gefallen, der auch die meisten der Verantwortlichkeiten übernimmt. Zusätzlich haben wir aber zum 1. Oktober Dr. Matthias Traub als Geschäftsführer berufen. Diese Entscheidungen insgesamt sind der Unternehmensgröße geschuldet, die wir mittlerweile erreicht haben, aber auch der zunehmenden technischen Komplexität, die wir bewältigen müssen. Beide gemeinsam bringen industrieübergreifende Erfahrung im Umgang zum einen mit Softwareprodukten, zum anderen aber auch mit unterschiedlichsten OEMs mit. Das ist die Kombination, von der wir uns für die Zukunft von Vector die meiste Wirkung versprechen.
Welche konkreten Ziele hat sich die Geschäftsführung in ihrer neuen Konstellation gesetzt?
Thomas Beck: In gewisser Weise bedeutet der Wechsel für uns einen Neuanfang und eine Gelegenheit, unsere Strategie neu zu denken; solide zu reflektieren, welche Schritte in die Zukunft die richtigen für uns sind. Wir befinden uns noch in diesem Prozess. Letztendlich wird er uns zu den Lösungen führen, die uns helfen, nachhaltige Strukturen zu schaffen – und den Wandel der Industrie in unserer Rolle als Enabler mitzugestalten. (na)
Das Interview führte Dr. Matthias Laasch, selbstständiger Fachjournalist, Chefredakteur und Autor.