Frau Dr. Schreivogel, welche Anforderungen muss ein Material erfüllen, um als Basismaterial für Leiterplatten für medizinische Anwendungen infrage zu kommen?
Dr. Alina Schreivogel Im Kern geht es zunächst darum, konventionelle Prozesse einer Leiterplattenfertigung auf neuen Materialien anwenden zu können. Bei den verwendeten Materialien sind im Bereich Medizintechnik und Elektronik zudem Eigenschaften wie etwa Dehnbarkeit und Hautverträglichkeit wichtig. Die weichen und hautfreundlichen Eigenschaften der Polyurethane sind nach unserer Einschätzung prädestiniert für den Einsatz in medizinischen Anwendungen. Elektronische Systeme, die bei mechanischer Verformung ihre Funktionalität beibehalten, können in der Anwendung beispielsweise an beliebig geformten Flächen angepasst werden oder reversible Dehnung bewältigen. Leiterplatten, die das können, lassen sich auch in vielen Bereichen wie Medizintechnik oder medizinische Prothetik, Softrobotik, Wearables oder Textilien einsetzen.
Welche Folgen hat das für die Leiterplattenproduktion?
Die neuen Trends aus den genannten Bereichen beeinflussen die Entwicklung der Elektronik. Wir stoßen auf neue Anforderungen, die in der Vergangenheit keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten, in der Zukunft aber für diese Anwendungsfälle unerlässlich werden. Nicht immer steht die elektrische Performance im Vordergrund, sondern Eigenschaften wie die Dehnbarkeit oder die Weichheit sind für die Kunden das entscheidende Argument. Für uns Leiterplattenhersteller bedeutet dies, innovative Lösungen zur Dehnbarkeit, Hautverträglichkeit aber auch zur Waschbarkeit eines Schaltungsträgers zu finden. Dehnbare Polyurethan-Leiterplatten, sogenannte Twinflex-Stretch-Leiterplatten, werden in angepassten, jedoch konventionellen nasschemischen Ätztechniken realisiert, wobei sich die Dehnbarkeit der metallischen Leitern durch spezielles Mäander-Design erreichen lässt. Aufgrund der niedrigen Erweichungstemperatur von Polyurethan werden die Stretch-Leiterplatten in einem Niedrigtemperatur-Reflowprozess bestückt. Hier kann man ein bei ungefähr 140 °C verarbeitetes Lot auf Zinn/Bismut-Basis einsetzen.
Klingt einfach. Aber ist es das auch?
Leider nein. Bei der dehnbaren Leiterplatte in der industriellen Herstellung gilt es mehrere Parameter zu berücksichtigen. Wir mussten einige Jahre Entwicklungsarbeit in diesem Bereich leisten. Doch jetzt sind wir aus der Forschungsphase raus und die hochelastischen Polyurethan-Folien finden Einzug in die Leiterplattentechnik. Polyurethan weist eine gute physikalische und chemische Stabilität auf. Es ist für Leiterplatten in 50–200 µm Dicke erhältlich und wird bei < 180 °C verarbeitet. Die dünnen, transparenten Folien wurden ursprünglich nicht für die Leiterplattenindustrie entwickelt. Das erschwert den Zugang auf die kupferkaschierten Basismaterialien. Diese stellen wir im ersten Produktionsschritt durch den Laminierprozess mit Kupferfolien selbst her. Die Haftung von Kupfer auf Polyurethan ist übrigens exzellent. Im Anschluss greifen wir auf die konventionellen nasschemischen Strukturierungs- und Ätzprozesse zurück.
Wie weit ist diese Technologie entwickelt?
Inzwischen lassen sich ein- und doppelseitige Leiterplatten in dieser Technologie herstellen. Die erste Serie für die Anwendung im medizinischen Sektor ist in Vorbereitung.
Was bedeutet das für das Leiterplatten-Design?
Wir haben bereits die Dehnbarkeit als wichtiges Merkmal erwähnt. Die mechanischen Eigenschaften der finalen Schaltung beeinflusst aber im Wesentlichen das Kupfer-Layout. Da Kupfer, wie alle Metalle, eine niedrige intrinsische Dehnbarkeit aufweist, gilt es die Leiterbahnstrukturen zu einer geeigneten zweidimensionalen Mäandergeometrie zu formen. Also wie einen Fluss, der sich durch die Landschaft windet. Erst dieses spezielle Design ermöglicht es, metallische Leiter dehnbar zu machen. Bei der Veränderung des Mäanderdesigns, der Leiterbahnbreite oder Höhe oder der Line/Space-Abmessungen ändert sich die Dehnbarkeit des Gesamtsystems. Auch Themen wie Lötstopplack, Deckfolie und anschließende Bestückung sind hier entscheidend und müssen berücksichtigt werden. Doch das Ergebnis lohnt sich.
Im Forschungsprojekt Intakt, an dem Sie mitarbeiten, geht es auch maßgeblich um die Anpassung an die menschlichen Formen und Miniaturisierung. Bieten hier Polyurethan-Folien Vorteile?
Ja, phantastische Vorteile sogar. Mit dehnbaren Schaltungsträgern entstehen noch mehr geometrische Gestaltungs- und Miniaturisierungsoptionen. Man kann falten, um die Ecke bauen und vielleicht sogar zusammenknüllen. In der körpernahen Medizintechnik geht es um Freiformgestaltung, etwa bei der Anpassung an den menschlichen Körper. Wie könnte die Elektronik in einer Manschette, die die Implantate kabellos mit Energie versorgt, am Unterarm aussehen? Die Geometrie des Unterarms kann man nicht mit einer einfachen geometrischen Form beschreiben. Wir verwenden hier den Begriff Freiform. Dementsprechend erlauben ultraflexible und biegeschlaffe Polyurethan-Leiterplatten hier die Freiformgestaltung der Elektronik. Dank der Dehnbarkeit des Leiterplatten-Systems könnte die Manschette mehrere Tausend Mal an- und abgelegt werden, ohne Beeinträchtigung der Elektronik und elektrischen Eigenschaften. Und es geht auch um Miniaturisierung. Das gehört zu den Grundanforderungen an unsere Arbeit. Nehmen wir das menschliche Ohr. Wie beispielsweise ein interaktives Implantat aussehen soll, das in ein Ohr eingepflanzt wird, um dort durch elektrische Stimulation den Tinnitus zu unterdrücken, ist noch nicht geklärt. Daran arbeiten wir in diesem Forschungsprojekt. Aber eines ist klar. Das Implantat wird winzig klein sein müssen.
Gibt es schon Produkte oder Anwendungsbeispiele von Polyurethanleiterplatten?
Ja, inzwischen konnten wir einige Kundenprojekte, mit einseitigen und doppelseitigen Leiterplatten, flexiblen Systemen mit partieller Verstärkung sowie erste Starr-Flex-Leiterplatten umsetzen. Aus dem Bereich Wearables/Textilelektronik zählt dazu etwa eine Jacke mit interaktiver Sicherheitsbeleuchtung für Fahrradfahrer. Sie ist eine Auftragsarbeit für die Firma Utope, die in Kooperation mit dem Fraunhofer IZM entstand. Die Elektronik oder Sensorik ist in derartigen Textilien oft über die Kabel angebunden. Hier können die Polyurethanleiterplatten Abhilfe schaffen. Eine leichte, dehnbare und semitransparente Leiterplatte in dieser Jacke wurde direkt auf die Textilien laminiert, was einen hohen Tragekomfort ermöglicht. Mit geeigneten Endoberflächen lassen sich hautfreundliche oder sogar biokompatible Leiterplatten für die Medizin-Technik realisieren. Die Leiterplatten sind in der Lage, sich an zahlreiche Formen und Konturen konform anzupassen, womit Anwendungen auf und mit dem Menschen möglich sind. Ein Beispiel aus dem Bereich Medizinanwendung. Für das Konsortium im Forschungsprojekt Bemobil wurde eine Leiterplatte aus Polyurethan mit mehreren Elektrodenelementen mit Silber-Oberfläche hergestellt. Dieses Elektrodenarray kann zur elektrischen Stimulation der gelähmten Muskeln bei der Rehabilitation zum Beispiel bei Schlaganfallpatienten eingesetzt werden.
Andrea Hackbarth
(tm)