Immer mehr elektronische Komponenten werden innerhalb kürzester Zeit abgekündigt und somit obsolet. Mangelnde Ersatzteileverfügbarkeit ist eine branchenübergreifende Herausforderung. Strategisches Obsoleszenz-Management hilft, die lückenlose Bauteilversorgung über den gesamten Produktlebenszyklus sicherzustellen.
Die Abkündigung von Bauteilen ist nicht zu verhindern und auch mein Tagesgeschäft“, beschreibt Irina Werle, Expertin im Bereich Obsoleszenz, ihren Arbeitsalltag bei der BMK Group. „Die Luft- und Raumfahrtbranche ist hier ein gutes Beispiel: Durch die sehr aufwendigen Zulassungsverfahren werden Mindestlieferzeiten von 10 bis 40 Jahren gefordert. In der Industrieelektronik und der Medizintechnik sind auch Nutzungszeiten von 10 bis 25 Jahren möglich“, berichtet Werle. „Elektronische Komponenten altern allerdings auch während der Lagerung, sodass deren Verarbeitung nur über eine begrenzte Zeit möglich ist. Ist das abgekündigte Bauteil dann nicht mehr verfügbar, bleibt in der Regel nur noch das Redesign der kompletten Baugruppe“, erzählt sie weiter. Dies gilt es aus Kostengründen möglichst zu vermeiden.
Kurze Innovationszyklen, Normen und gesetzliche Vorgaben, Weltpolitik oder Naturkatastrophen können dazu führen, dass viele industriell genutzte Komponenten nur kurze Zeit verfügbar sind. Verschärft wird die Situation durch Umweltauflagen wie RoHS (Restriction of Hazardous Substances) oder die EU-Chemikalienverordnung Reach. So ist verbaute Elektronik oft schon nach ein, zwei Jahren veraltet – manchmal sogar früher – und wird von der nächsten Produktgeneration abgelöst. Prozessoren beispielsweise, sind meist schon obsolet, wenn sie ausgeliefert werden. Neben elektronischen Komponenten betrifft die Obsoleszenz-Problematik übrigens zunehmend auch mechanische Komponenten, Software und Dienstleistungen.
Obsoleszenz: Die geplante Alterung unserer Produkte
Obsoleszenz beschreibt den Prozess, bei dem Produkte absichtlich oder aufgrund technologischer Fortschritte veralten, obwohl sie noch funktionsfähig sind. Besonders in der Elektronikindustrie, wie bei Smartphones und Druckern, und in der Automobilindustrie kommen Strategien zur Verkürzung der Produktlebensdauer häufig vor. Diese Praktiken führen zu erhöhtem Ressourcenverbrauch, mehr Abfall und zusätzlichen Kosten für die Verbraucher. Beispiele wie Apple, das durch Software-Updates ältere iPhones verlangsamt, verdeutlichen die Problematik. Die Auswirkungen betreffen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen und erfordern wirksame Gegenmaßnahmen wie Reparatur und nachhaltiges Design. Möchten Sie mehr über die Mechanismen und Folgen der Obsoleszenz erfahren? Klicken Sie hier, um weiterzulesen.
Die Hersteller von elektronischen Komponenten informieren ihre Kunden durch regelmäßige Product Change Notification (PCN). Große Unternehmen, die Zehntausende verschiedener Komponenten verbauen, erhalten jeden Monat Hunderte dieser Mitteilungen. „Leider gibt es weder ein verbreitetes Standardformat, noch eine einheitliche Terminologie für PCNs,“ beklagt sich Werle. Es kann daher schon einmal passieren, dass Entwickler in ihrem Tagesgeschäft aufgrund der Vielzahl der PCN-Informationen unterschiedlichster Hersteller durch fehlende Bauteile überrascht werden, weil sie Produktabkündigungen eines Herstellers übersehen haben. Solche Meldungen zum „End of Life“ (EOL) eines Bauteils ermöglichen noch eine letzte Bestellung (Last Time Buy), um ausreichend Teile für künftige Fertigungen zu bevorraten. „Nicht so bei uns, denn wir haben ein mehrstufiges Obsoleszenz-Management (OM) entwickelt, um die negativen Auswirkungen von Bauteilabkündigungen zu begrenzen“, berichtet die OM-Spezialistin im strategischen Einkauf. Aus diesem Grund engagiert sich die Fachfrau im Vorstand der COG (Component Obsolescence Group) Deutschland e. V., denn der Industrieverband rechnet damit, dass sich die Versorgungssituation bei Bauteilen in den kommenden Jahren weiter verschlechtern könnte – insbesondere in Europa. Um die durch Abkündigungen verursachten wirtschaftlichen Folgekosten zu minimieren, will die COGD Obsoleszenz-Management über den gesamten Lebenszyklus von Produkten als Standardprozess etablieren.
Was das Obsoleszenz-Management mit der Langzeitverfügbarkeit zu tun hat
Ein strategisches Obsoleszenz-Management (OM) hat das Ziel, über den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Anlagen eine lückenlose Versorgung mit hochwertigen Bauteilen sicherzustellen. Optimalerweise wird die Verfügbarkeit von Komponenten und Systemen als Kernthema in alle Überlegungen über die gesamte Lieferkette hinweg einbezogen.
Irina Werle: "Mit einem guten OM verschaffen Sie sich einen Time-to-Market-Vorteil."
Irina Werle: „Langzeitverfügbarkeit ist ohne ein aktives Obsoleszenz-Management in der aktuellen Marktsituation nicht realisierbar!“ Hersteller, Lieferanten und EMS müssen bereits bei der Beschaffung gemeinsam darüber nachdenken, wie ein System betriebsbereit bleibt und über die gesamte Lebensdauer Zugang zu einer Ersatzteilversorgung hat. Der Management-Prozess kann in verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus ansetzen – bereits während der Entwicklung oder später im Einsatz – und sämtliche Entwicklungs-, Produktions- und Serviceleistungen umfassen. So werden Lieferanten häufig bereits bei der Entwicklung von Produkten einbezogen. Lieferantenverträge enthalten meist eine frühzeitige Meldepflicht für Abkündigungen.
Mit einer umfassenden Technologie-kompetenz in der Entwicklung und Fertigung von elektronischen Baugruppen und Geräten, einem leistungsfähigen Einkauf und marktgerechten Logistikkonzepten berücksichtigt BMK die spezifischen Anforderungen bei der Optimierung seiner Supply-Chain. Um Kunden noch besser hinsichtlich der gestiegenen Marktanforderungen zu unterstützen, setzt BMK verschiedene Datenbanken ein und verknüpft diese, um zuverlässige Aussagen zu den relevanten Themen Umwelt, Obsoleszenz und Lebenszyklus als auch zur europäischen Regulierung von Konfliktmineralien zu treffen.
In der Praxis sieht das Obsoleszenz-Management so aus
Damit Abkündigungen an Brisanz verlieren, gilt es, die Vitalität der eingesetzten prozesskritischen Komponenten im Blick zu haben und zu analysieren. Die Palette präventiver, proaktiver und reaktiver Maßnahmen zum Umgang mit Obsoleszenz ist breitgefächert. Bei BMK sieht das so aus: Die PCN-Meldungen laufen beim strategischen Einkauf, das heißt an einer zentralen Stelle, zusammen und werden hinsichtlich der Bedeutung für die Kunden systematisch ausgewertet. Ein BMK-eigenes Programm sorgt für die Verknüpfung der Bauteilinformationen mit den Baugruppen der Kunden und stellt die relevanten Informationen kundenspezifisch zusammen. Zeitgleich werden Einkauf und Entwicklung des Kunden über die aktuellen Nachrichten informiert. Die automatisierte Kundeninformation des EMS-Anbieters enthält Informationen über die betroffenen Baugruppen und die dazugehörigen PCN-Informationen, Details zum End of Life, Last Time Buy sowie die Originalmeldungen des Herstellers. Der Kunde kann jetzt auf einen Blick die Baugruppen und die gesetzten Termine erkennen und entscheiden, ob beispielsweise eine Last Time-Buy erforderlich ist. Die Informationen werden bei BMK außerdem automatisch in die Produkt-Stammdaten übernommen und liegen bei der nächsten Fertigungsplanung wieder vor. „Wichtig dabei ist, dass wir sehr eng mit unseren Bauteillieferanten zusammenarbeiten“, bekräftigt Irina Werle.
Reaktives und proaktives Obsoleszenz-Management?
Obsoleszenz hat eine lange Geschichte. Ein ausschließlich reaktives OM setzt jedoch häufig zu spät an. Es kann die Folgen von obsoleten Bauteilen, Grundstoffen und Software oftmals nicht vollständig vermeiden. Proaktives OM sammelt und analysiert frühzeitig Informationen, damit der reaktive Lösungsfindungsprozess rechtzeitig starten kann und mehr Alternativen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund steht das 30-köpfige Team des strategischen Einkaufs bei BMK mit Irina Werle sowohl mit externen Lieferanten als auch mit den Abteilungen Entwicklung, Produktmanagement und operativer Einkauf immer in einem engen Informationsaustausch. Sie nennt das einen ganzheitlichen Ansatz. Dass das nicht immer einfach ist, dafür hat sie einen einfachen Slogan entwickelt: Dort, wo man nicht segeln kann, da muss man rudern.
Die Autorin
Petra Gottwald, Chefredakteurin Productronic, nach Unterlagen von BMK
5 Handlungsempfehlungen für ein gutes OM
1. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um mit OM zu beginnen.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um mit dem Obsoleszenz Management zu beginnen? Jetzt!
In der Entwicklungsphase Ihres Produktes, haben Sie den größtmöglichen Einfluss auf die Bauteilauswahl. Ein idealer Zeitpunkt, um Teile auszutauschen, die nicht mehr verfügbar sind, oder wohlmöglich nicht auf den Lebenszyklus Ihrer Baugruppe angepasst sind. Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade die Prototypenphase für Ihre Baugruppe – vielleicht mit Zertifizierungen - abgeschlossen, die 10 Jahre gefertigt werden soll. Nun bekommen Sie die erste End-of-Life (EOL)-Nachricht. Oder die Baugruppe befindet sich mitten im Lebenszyklus. Stellen Sie sich vor, Sie würden dann wissen, dass in zwei Jahren 50% Ihrer Keyteile abgekündigt sind. Würden Sie daraufhin in diesen zwei Jahren Ihre Entwicklungen nicht anders planen?
2. Jeder kann die Verantwortung für ein gutes OM übernehmen.
Egal ob Entwickler oder Einkäufer, Distributor oder EMS. Selbst Hersteller ermöglichen den Weitblick für ein gutes OM und unterstützen in vielen Lebensphasen der Baugruppe. Automobilhersteller verankern ihre Bedingungen in Verträgen mit den Zulieferern. Wieso also nicht auch in anderen Industriebranchen? Vielleicht ist es eine Alternative für Sie, ein Automotive-Teil einzusetzen und damit die Lebenszeit Ihrer Baugruppe zu verlängern?
3. Design for Logistik (DfL) - Design für eine bessere Verfügbarkeit.
Ein Beispiel: Die Bestandteile einer großen Druckeranlage, die 20-25 Jahre auf dem Markt bleiben soll, müssen einfach nachzukaufen sein. Bedenken Sie immer, dass in dieser Zeitspanne mal das eine oder andere Teil in einem einzelnen Modul nicht verfügbar ist. Wenn das Modul dann austauschbar ist, lassen sich aufwendige Komplettänderungen umgehen. Aber auch innerhalb einer Baugruppe können Layouts so designt werden, dass zum Beispiel ein Bauteil zwei verschiedene Footprints hat und damit zwei verschiedene Bauformen möglich sind. So sind Sie vorbereitet, wenn mal wieder die Erde bebt oder ein Vulkan ausbricht.
4. Immer einen Plan B in der Tasche.
Sie müssen sich nicht über jedes Beben der Welt Gedanken machen, aber es hat sich gezeigt, dass man immer mal mit Schieflagen rechnen muss. Allein in den letzten Jahren mussten wir mit den Folgen von Vulkanausbrüchen, Erdbeben, politischen Streitigkeiten oder einer Pandemie umgehen lernen. Allokationen und Abkündigungswellen kommen immer wieder aus verschiedenen Gründen. Wenn Sie dann in der Krise wissen, wie Sie vorgehen möchten, an wen Sie solche Spezialaufträge vergeben, nach welchen Prioritäten Sie die Aufgabenliste abarbeiten, dann haben Sie einen entscheidenden Vorteil gegenüber Marktbegleiter.
5. In der Ruhe liegt die Tatkraft.
Aus der Strategie erfolgt die Planung und mit der Planung die Ruhe, in der die Tatkraft liegt. Mit einem ausgefeilten OM können Sie, auch in einer Krise, Ihre Aufträge bedienen und müssen nicht unter Zeitdruck überlegen wie Sie die Aufträge, oft mit wirtschaftlichen Nachteilen für Sie, erfüllen. Sie müssen nicht mit einem EOL-Buy beim Broker hohe Kosten akzeptieren oder in einer Hau-Ruck-Aktion ein Rework organisieren. Sie haben dann bereits das nächste Redesign geplant, vielleicht auch schon budgetiert, und können in Ruhe entscheiden, nach welchem Plan Sie vorgehen.