Wie sich Produktionsprozesse durch fahrerlose Transportsysteme effizienter gestalten lassen, zeigt das Praxisbeispiel bei Sigmatek. Durch den Einsatz autonomer Transportfahrzeuge wird die innerbetriebliche Materialversorgung automatisiert – von der SMT-Bestückung bis zum Lager. Das entlastet Fachkräfte von Nebentätigkeiten, erhöht die Produktivität und schafft Raum für zusätzliche Fertigungslinien.
Petra GottwaldPetraGottwaldPetra GottwaldChefredakteurin Elektronik-Titel
4 min
Autonome Transportfahrzeuge vom Typ Melkus Rack Stacker BLS4060 versorgen bei Sigmatek die Elektronikfertigung – ihre menschlichen Kollegen tauften sie „Sisi und Franz“.SIGMATEK
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Seit 1988 entwickelt und produziert Sigmatek in Lamprechtshausen (Österreich) Systeme für die industrielle Automatisierung. Das eigentümergeführte Familienunternehmen bietet Maschinen- und Anlagenbauern sowohl komplette Automatisierungslösungen als auch kompakte, modulare Einzelkomponenten mit hoher Skalierbarkeit. Als Komplettanbieter deckt Sigmatek mit Steuerungs-, Antriebs- und Visualisierungssystemen die gesamte Bandbreite industrieller Automatisierung ab. Auch die objektorientierte Engineering- und Realtime-Software Lasal entsteht im eigenen Haus. „Diese Fertigungstiefe und unsere Flexibilität als Mittelständler sichern uns im Wettbewerb mit deutlich größeren Anbietern einen Vorsprung“, erklärt Geschäftsführer Alexander Melkus. „Entsprechend unserem Geschäftszweck und den hohen Standortkosten streben wir eine weitgehend automatisierte Produktion an.“
Lange galt die innerbetriebliche Materialversorgung als kaum wirtschaftlich automatisierbar. Produktionsmitarbeitende mussten Materialien selbst an Maschinen oder Arbeitsplätze bringen und dazu ihre eigentliche Tätigkeit unterbrechen. „Das ist keine sinnvolle Aufgabe für qualifiziertes Fachpersonal, das ohnehin schwer zu finden ist“, erklärt Gerald Haas, Vice President Operations bei Sigmatek. „Wenn solche Kräfte ihre Zeit mit unproduktiven Nebentätigkeiten wie Warentransport verbringen, leidet die Produktivität erheblich.“
Sisi und Franz navigieren mittels LiDAR-Scanner und SLAM-Navigation ohne spezielle Installationen, kommunizieren per WLAN und lassen sich dank VDA5050-Kompatibilität in beliebige Leitsteuersysteme einbinden.Sigmatek
Der Wunsch nach einem automatisierten, parallel zum Produktionsprozess laufenden Materialtransport führte zur Einführung fahrerloser Transportsysteme. Zunächst sollte der Transfer fertig assemblierter Steuerungsbaugruppen automatisiert werden – wahlweise vom Montagebereich ins Fertigwarenlager oder zu einem Arbeitsplatz in der Qualitätssicherung.
Die Transportstrecken umfassen bis zu 100 Meter, verteilt auf neun Stationen in zwei Etagen. Für den Ebenenwechsel nutzen die Fahrzeuge den vorhandenen Aufzug.
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Hauptzeitparalleler Transport
Um die Produktionsmitarbeitenden zu entlasten, startete Sigmatek ein Pilotprojekt mit einem fahrerlosen Transportsystem (FTS). Zwei Fahrzeuge übernehmen dabei den Transport von Euroboxen im Montagebereich. Nach einer Evaluierung diverser Anbieter entschied sich das Unternehmen für Melkus Mechatronic.
Ausschlaggebend waren neben der regionalen Nähe und der damit verbundenen Servicequalität vor allem die langjährige Erfahrung des Herstellers und das überzeugende Fahrzeugkonzept. Die kompakten, wendigen Modelle des Typs Melkus Q40 messen lediglich 400 × 400 mm und benötigen dank der von Sigmatek entwickelten SLAM-Navigation (Simultaneous Localization and Mapping) keine installierten Referenzpunkte.
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Selbst unter Last können sich die AGVs auf der Stelle drehen und bewegen sich auch in engen Produktionsgängen sicher. Gleichzeitig bleiben sie manuell verschiebbar – ein wichtiger Sicherheitsaspekt, da so die Fluchtwege jederzeit frei bleiben.
Ein weiterer technischer Kniff: Sigmatek entwickelte eine eigene mechatronische Einheit, die es erlaubt, die Stockwerksanwahl der Lastenlifte zu automatisieren – ohne in deren Steuerung einzugreifen. Dadurch kann das FTS die Lifte selbstständig ansteuern. Fahraufträge werden komfortabel über Bedienterminals an den Übergabestationen erteilt.
Schon dieser erste Automatisierungsschritt brachte spürbare Effizienzgewinne. Das FTS erledigt mittlerweile über 50 Fahrten pro Tag. „Das entlastet unsere Mitarbeitenden und verschafft ihnen mehr Zeit für wertschöpfende Tätigkeiten“, erklärt Gerald Haas. „Mehrere Personenstunden täglich fließen so direkt in die Produktion zurück.“
Fahrerlose Transportlösung entlastet SMT-Linie
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Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt lag es nahe, auch die Be- und Entladung der SMT-Linien mit Leiterplattenmagazinen und Euroboxen per FTS zu automatisieren. SMT (Surface Mount Technology) steht für die vollautomatische Bestückung, Verlötung und Prüfung von beidseitig mit SMD-Bauteilen versehenen Leiterplatten – die Elektronikbaugruppen durchlaufen die Linie dabei zweimal. Dieser Automatisierungsschritt sollte deutlich umfangreicher ausfallen: Während im Montagebereich die Fahraufträge noch über Terminals an den Übergabestationen erteilt wurden, sollte das FTS nun direkt mit der ERP-Software verknüpft werden, um Fahrten bedarfsgerecht zu starten. Auch die Materialübergabe sollte automatisiert erfolgen – die Fahrzeuge liefern leere Leiterplatten auftragsgesteuert an und holen fertige Baugruppen ab. Dabei ist ESD-Konformität Pflicht, um empfindliche Elektronik vor statischer Aufladung zu schützen. In nur sechs Monaten entwickelte Melkus Mechatronic gemeinsam mit Sigmatek den Melkus Rack Stacker BLS4060, ein dynamischer Klein-AGV, der kein kundenspezifisches Einzelstück darstellt, sondern ein Serienprodukt ist. Er erfüllt Anforderungen, wie sie in nahezu jeder Elektronikfertigung oder Feinmechanik zu finden sind.
„Mit diesem dynamischen Klein-AGV entstand kein
kundenspezifisches Einzelstück, sondern ein Serienprodukt. Es erfüllt
Anforderungen, wie sie in nahezu jeder Elektronikfertigung oder Feinmechanik zu
finden sind.“
Ing. David Barth, Leiter Konstruktion und Entwicklung,
Melkus Mechatronic
Der Rack Stacker BLS4060 eignet sich sowohl für den Transport und das Handling gängiger Leiterplattenmagazine als auch klassischer Euroboxen bis zum Format 400 × 600 mm. Die kurze Entwicklungszeit war dem konsequent modularen Aufbau aller Fahrzeuge von Melkus Mechatronic zu verdanken – das System basiert auf dem bewährten Plattform-AGV Melkus C4060. Die LiFePO₄-Akkus ermöglichen eine unterbrechungsfreie Betriebsdauer von bis zu acht Stunden. Mit einer Grundfläche von nur 719 × 676 mm bewegt sich das autonome Fahrzeug selbst in engen Produktionsgängen sicher. „Die Fahrzeuge müssen sich bei uns die Wege mit Fußgängern teilen“, erklärt Gerald Haas. „Da sie sich nach einem Nothalt ohne Kraftaufwand wegschieben lassen, bleibt der Fluchtweg vollständig erhalten.“
Automatisierte Lastübergabe
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Auch bei der Lastübergabe griffen die AGV-Spezialisten auf bewährte Komponenten zurück. Neu entwickelt wurde jedoch das Liftsystem. Es ermöglicht eine flexible Übergabe der Transportgüter auf Höhen zwischen 320 mm und 1.800 mm. Passend zum modularen Konzept ist das System als mechatronische Einheit mit eigener Steuerung ausgeführt. Trotz des am höchsten Punkt montierten Lidar-Scanners bleibt das AGV mit 1.950 mm Gesamthöhe tauglich für Standardtüren.
Die präzise und schnelle Lastübergabe erfolgt beidseitig über ein integriertes Förderbandsystem mit Klemmbacken, die die Ladungsträger sicher greifen. Da sich der Rack Stacker auf der Stelle drehen kann, kann er selbst in engen Bereichen effizient arbeiten. Ein integrierter RFID-Scanner identifiziert die Behälter automatisch.
Bild 2: Auf den rund 100 Meter langen Transportwegen müssen die autonomen Transportfahrzeuge mit einem Aufzug das Stockwerk wechseln. Die eigens entwickelte Vorrichtung für die automatisierte Tastenanwahl ermöglicht es dem Melkus Q40, die Stockwerke zu wechseln.SIGMATEK
Wie alle AGVs von Melkus nutzt auch der BLS4060 Automatisierungstechnik von Sigmatek – von CPUs und Displays über Elektronikmodule bis hin zur Navigationssoftware. Gesteuert wird das System über das smarte Traffic Control System (TCS), das zusammen mit der SLAM-Navigation von Sigmatek entwickelt wurde. Über die Anbindung an ERP- und Lagerverwaltungssysteme werden Materialdaten direkt in Fahraufträge übersetzt. „Um die erweiterten Funktionen des Melkus Rack Stacker voll zu nutzen, haben wir das TCS um neue Dimensionen ergänzt“, erklärt Gerhard Veldman, Applikationsingenieur bei Sigmatek. „Es berücksichtigt nunmehr die Höhenlage des Lagerortes und einen Versatz in allen Richtungen. So entstand TCS 3D.“
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Breite Akzeptanz
Noch befindet sich die Installation bei Sigmatek im Ausbau – an den Übergabestellen sind weitere Investitionen vorgesehen. Dennoch zeigen sich die Effekte bereits deutlich: Die richtigen Racks gelangen auf Basis der ERP-Aufträge automatisch zu den SMT-Linien und von dort direkt zum vorgesehenen Lagerplatz oder Inspek-tionsarbeitsplatz. „Das entlastet unsere Mitarbeitenden von zeitraubenden Nebentätigkeiten und reduziert Fehlerquellen“, erklärt Gerald Haas. „Zudem verbessert der Wegfall des Zwischenlagers die Arbeitsplatzqualität und schafft Platz für eine dritte SMT-Linie.“
Auch bei den Beschäftigten genießt das Projekt sehr hohe Akzeptanz. Sigmatek hatte sie von Beginn an in die Umsetzung eingebunden, um Begeisterung für die neue Technik zu wecken. Die Mitarbeitenden kannten bereits die Zuverlässigkeit der Melkus Q40-Fahrzeuge. Zur leichteren Integration der neuen Melkus Rack Stacker erhielten diese nach einem internen Wettbewerb die Namen des legendären Kaiserpaars – „Sisi“ und „Franz“. So wurde das Robotik-Duo nicht nur Teil der Intralogistik, sondern auch ein geschätztes Mitglied des Teams.
Autorin
Petra Gottwald,
Chefredakteurin Elektronik-Titel, nach Unterlagen von
Sigmatek, A-Lamprechtshausen