High Mix – Low Volume: Eine Herausforderung für Elektronikdienstleister

High Mix – Low Volume: Eine Herausforderung für Elektronikdienstleister (Bild: BMK)

Vor allem in Europa sind zahlreiche Elektronikdienstleister vertreten, deren Fokus auf der Fertigung von Industrieelektronik in geringeren Stückzahlen liegt. Während sich einige der kleineren EMS dabei auf spezielle Nischenanwendungen konzentrieren, decken viele Auftragsfertiger eine breite Anwendungspalette für verschiedenste Branchen ab. Auch das angebotene Dienstleistungsspektrum kann variieren und von der Entwicklung und Zertifizierung, über die Produktion bis hin zur Montage, Prüfung und Reparatur von elektronischen Baugruppen reichen.

Aufgrund der Vielfalt und des Variantenreichtums in Produktfamilien (High Mix) werden einige Fertigungsprozesse wie die THT-Bestückung oder die Montage von Komplettsystemen bei geringen Jahresproduktionsmengen (Low Volume) oft noch manuell durchgeführt. Dabei erwarten die Endkunden jedoch dieselbe Qualität wie bei der automatisierten Großserienfertigung. Viele EMS-Dienstleister in Hochlohnländern stehen zudem in starker Konkurrenz zu osteuropäischen Wettbewerbern mit deutlich niedrigeren Durchschnittslöhnen. Kongruent zur verketteten und automatisierten SMT-Produk-tion ist daher eine Automatisierung der noch manuellen Prozessschritte nötig. Die Geschäftsführerin bei BMK, Dr. Bärbel Götz, erklärt: „Die Fähigkeit der EMS-Unternehmen, sich in einem wettbewerbsstarken Markt durchzusetzen, wird entscheidend vom Grad der Automatisierung und der digitalen Transformation beeinflusst. Die Implementierung von Industrie 4.0, KI sowie neuen Fertigungstechnologien stellt dabei einen wesentlichen Erfolgsschlüssel dar.“

ModProFT-Projektteam aus Mitarbeitern von BMK und dem TTZ Nördlingen
Einmal im Quartal traf sich das ModProFT-Projektteam aus Mitarbeitern von BMK und dem TTZ Nördlingen (Bild: BMK)

Flexibilität durch digitalen Zwilling

Im Rahmen des vom Freistaat Bayern geförderten Forschungsprojekts „ModProFT – Modellbasierte autonome Prozessplanung für Funktionstests in der Elektronikfertigung“ entwickelten BMK und das Technologietransferzentrum für flexible Automation der Hochschule Augsburg gemeinsam ein robotergestütztes Prüfkonzept für elektronische Baugruppen. Mithilfe eines Robotereinsatzes wurde die Automatisierung des Testkonzepts für Baugruppen speziell mit geringen Losgrößen erreicht. Das Anlagenkonzept erforderte das schnelle Wechseln des produktspezifischen Testadapters sowie das robotergestützte Greifen und Handeln der einzusetzenden Baugruppen. Zur Gewährleistung eines reibungslosen Testablaufs wird die Robotereinheit direkt mit dem Testsystem vernetzt. Das Konzept des „Digitalen Zwillings“ ermöglichte es hierbei, sowohl die zu prüfende Baugruppe und die Robotik-Anlage als auch das Testsystem und den Prozessablauf digital abzubilden und in die IT-Architektur von BMK einzubinden. Anhand eines Demonstratoraufbaus wurden die wesentlichen Funktionalitäten technisch evaluiert und erfolgreich auf Prozessstabilität hin geprüft.

Robotergestützter Prüfprozess

Im ersten Prozessschritt wird die Baugruppe hinsichtlich ihrer Abmessungen, ihrer Position sowie eines angebrachten Data Matrix Codes (DMC) auf dem Tablar
exakt erfasst. Dafür kommt ein komplexes optisches System zum Einsatz, das unterschiedlichste Produkte anhand eines antrainierten KI-Modells sicher unterscheiden kann. Der DMC ermöglicht eine Abfrage des Produkts über das ERP-System, in dem die Baugruppe mit ihren spezifischen Merkmalen angelegt ist. Ebenfalls erfolgt auf diesem Weg eine Plausibilitäts- und Ablaufprüfung. So lässt sich jede Baugruppe separat mit der gewählten Konfiguration prüfen. Die optische Prüfung erlaubt die Identifikation eventueller Unregelmäßigkeiten wie sich überlappender, fehlplatzierter oder gar auftragsfremder Baugruppen auf dem Tablar.

Nachdem die Baugruppe durch das Automatisierungssystem erfolgreich erfasst wurde, kommt ein speziell entwickelter Greifer zum Einsatz, der diese aufnimmt und in den Funktionstester einsetzt. Das Greifprinzip erfordert eine ausreichende Greiffläche am Rand der Baugruppe. Zudem ist eine Aufnahme im Bereich der Schwerpunktlinie zwingend notwendig.

Der elektrische Test wird vollautomatisch und unabhängig vom Automatisierungssystem durchgeführt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass bereits verfügbare, bisher manuell zu bedienende Testsysteme einsetzbar sind. Nach der Kontaktierung der Baugruppe mit einer Vielzahl von Einzelkontaktstiften wird der Ablauf der Testroutine automatisch gestartet. Je nach Komplexität des Funktionstests kann hier auch eine seriennummernspezifische Programmierung erfolgen. Nach erfolgreichem Testvorgang wird das Testergebnis weitergegeben und die Baugruppe vom Testsystem „freigegeben“. Anschließend nimmt das Automatisierungssystem die Baugruppe aus dem Tester und platziert sie je nach Ergebnis auf einem „Pass“- beziehungsweise „Fail“-Band. Läuft der Test das erste Mal „Fail“, kann eine Wiederholungsprüfung mit erneutem Einsetzprozess erforderlich sein. Um einen autarken Testbetrieb über mehrere Stunden zu ermöglichen, müssen sowohl die Zu- als auch die Abführung der zu prüfenden Baugruppen automatisiert werden.

Vernetzte Kommunikation & Software

Nach und während des Prozessdurchlaufs muss eine Vielzahl an Informationen zwischen den beteiligten Systemen ausgetauscht werden. Über die IT-Landschaft müssen Daten aus dem ERP-System bereitgestellt, sowie Informationen und Ergebnisse aus verschiedenen Speicherorten beziehungsweise Datenbanken zurückgespielt werden. Über den Nachrichtenbroker Azure Service Bus ließ sich der Informationsaustausch zwischen Test- und Automatisierungsanlage sicher realisieren. Über einen weiteren Proxy-Dienst werden Informationen aus dem ERP-System an die Testanlage weitergegeben bzw. Ergebnisse von der Anlage zurückgespielt.

Roboter beim Einsetzen der Baugruppe in den Testadapter
Roboter beim Einsetzen der Baugruppe in den Testadapter (Bild: BMK)

Mit Blick auf die softwaretechnische Umsetzung des Prozessablaufs wurden die verschiedenen Funktionalitäten für die Automatisierung auf Grundlage des Frameworks Robot Operating System (ROS) programmiert und realisiert. Neben der optischen Erfassung der Baugruppen müssen unter anderem die Roboterposition sowie die Umgebung mit dem produktspezifischen Testadapter bekannt sein. Mithilfe einer Control Unit wird daraufhin der Bewegungsablauf des Roboters mitsamt dem Greifer definiert. Die Ablaufreihenfolge orientiert sich dabei am vorgegebenen Prozess. Komponenten wie die Kamera und das Greifsystem werden entsprechend angesteuert und die Bewegungen des Roboters chronologisch durchgeführt. Über die Datenschnittstellen lassen sich Informationen mit den übergeordneten IT-Systemen kontinuierlich austauschen.

Schonendes Baugruppen-Handling

Um die Belastung auf die Baugruppen während des Greifens, des Einsetzens und auch der Entnahme aus dem Testsystem zu prüfen, wurden mittels Dehnmessstreifen Belastungsmessungen durchgeführt. Diese ergaben, dass die einzelnen Baugruppen zu keinem Zeitpunkt eine höhere Belastung als 100 Microstrain erfahren. Ein Microstrain definiert eine Längenänderung über ein Mikrometer, bezogen auf einen Meter Länge. Standardgemäß werden Belastungen elektronischer Baugruppen bis zu einer Grenze von 500 Microstrain geduldet. Die Handhabung durch das Automatisierungssystem ermöglicht für den gesamten Prozessablauf eine dauerhafte Unterschreitung des vorgegebenen maximalen Belastungswertes. Dies stellt gegenüber einem manuellen Handling einen eindeutigen Vorteil dar, da die maximale Belastung klar definiert und zudem überwacht wird.

Wirtschaftliche Komponenten-Anordnung

Die Konzeption der Fertigungsumgebung ist ein relevanter Schlüssel zur wirtschaftlichen Umsetzung des automatisierten Prozesses und sollte einige wesentliche Anforderungen erfüllen. Die manuelle Bedienung des Testsystems sowie eine manuelle Versorgung der Anlage mit den zu prüfenden Baugruppen ohne Unterbrechung des automatisierten Ablaufs muss zu jeder Zeit möglich sein. Darüber hinaus liegt die Anzahl der zu integrierenden Testsysteme bei zwei bis vier, wobei die Auslastung jedes Testsystems über 80% Prozent betragen sollte. Eine Umrüstung der Anlage mit produktspezifischen Testsystemen muss daneben einfach und schnell umsetzbar sein. Zuletzt müssen „Fail“-getestete Baugruppen separat ausgeschleust werden.

Ergebnis der mechanischen Stressmessung
Ergebnis der mechanischen Stressmessung (Bild: BMK)

Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen sind verschiedene Komponenten-Anordnungen möglich, die je nach Wirtschaftlichkeit individuell zu bewerten und umzusetzen sind. Dazu zählen zirkular angeordnete Systeme mit dem Roboter im Mittelpunkt, lineare Anordnungen mit einer zusätzlichen Transferachse für den Roboter oder die Zuführung der Baugruppen anhand einer automatisierten Entstapelung von Tablaren.

Erfolgreicher Abschluss

Auf Basis der Ergebnisse des im Juni 2024 erfolgreich abgeschlossenen Förderprojekts befindet sich BMK derzeit im Aufbau und in der Inbetriebnahme einer produktiven Anlage. Die Anwendung speziell für den Produktionsansatz „High Mix – Low Volume“ stellt einen wichtigen Schritt für die Automatisierung und damit den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Elektronikfertigung „Made in Germany“ dar.

Dr. Richard Scheicher, BMK
(Bild: BMK)

Dr. Richard Scheicher

Leitung Innovation & Fertigungstechnologie, BMK, Augsburg

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