
Der anfängliche Glanz bei Cariad ist verblasst. Eine Analyse zeigt, welche Fehler begangen wurden. (Bild: Cariad)
„Ich hatte 17 Status-Meetings pro Woche, alle wollten denselben Status hören, nur auf anderen Folien.“ – „Wir haben alles eingestellt, was einen Laptop tragen konnte.“ – „Wir durften Software entwickeln, aber keine echten Entscheidungen treffen.“ Diese vernichtenden Zitate von Insidern bringen die Probleme bei Cariad drastisch auf den Punkt. Eigentlich sollte Cariad, Volkswagens Antwort auf Tesla, eine agile, schlanke Software-Einheit werden, doch heute steht das Unternehmen exemplarisch für Chaos und ineffiziente Konzernstrukturen. Philipp Raasch identifiziert in einem LinkedIn-Post sowie in seinem Podcast sieben zentrale „Geburtsfehler“, die den Misserfolg maßgeblich geprägt haben. Dieser Misserfolg äußert sich wie folgt:
Die sieben Geburtsfehler von Cariad im Überblick
Laut Philipp Raasch sind die sieben gravierenden Fehler:
- Zu schnelles Wachstum ohne klare Struktur.
- Fehlendes eigenes Budget und keine Entscheidungsmacht.
- Übernahme komplexer Altprojekte statt Fokus auf Innovation.
- Mangel an eigener Softwareentwicklungskompetenz.
- Massive interne Konflikte zwischen den Konzernmarken.
- Führungskräfte mit traditioneller Hardware- und Karrierementalität.
- Zu bequeme und leistungsfeindliche Unternehmenskultur.
Diese Fehler analysieren wir im Folgenden detailliert:
Im Podcast: Der Cariad Insider Report (und was wir daraus lernen sollten)
Zu schnelles Wachstum ohne Struktur
Fangen wir von vorne an: Cariad startete 2020 unter dem Namen car.software mit ambitionierten Plänen von Herbert Diess. Seit März 2021 firmierte sie dann unter dem neuen Namen. Doch statt nachhaltiger Entwicklung wuchs das Unternehmen innerhalb kürzester Zeit auf rund 6.000 Mitarbeiter, viele davon ohne Automotive-Erfahrung. Laut Raasch kritisiert ein Insider: „Wir haben alles eingestellt, was einen Laptop tragen konnte.“ Diese rasante Expansion führte direkt ins organisatorische Chaos. Viele Prozesse und Verantwortlichkeiten blieben unklar, was die ohnehin schwierige Situation quasi von Beginn an zusätzlich verschärfte. „Maximal dumm“, sei die Umsetzung gewesen, obwohl die Idee ihren Charme hatte. Im Detail sah das laut den Mitarbeitern so aus: „Ich kam zu Cariad und wusste nicht, was meine Aufgabe war. Es gab keine Rollenbeschreibung. Also habe ich angefangen, das aufzubauen, was ich aus der Marke kannte.“ Und damit war er nicht allein: Audi-Leute bauten Audi-Strukturen, Porsche-Leute Porsche-Prozesse und VW-Leute ihre eigenen Systeme. „Statt einer schlanken Software-Company entstand ein Flickenteppich aus kleinen Konzern-Kopien“, formuliert es Raasch.
Kein eigenes Budget, keine Macht für Cariad
Ein weiterer grundlegender Fehler war, dass Cariad nie ein eigenes, unabhängiges Budget erhielt. Alle finanziellen Mittel kamen direkt von den Marken Audi, Porsche und VW, was Cariad von Anfang an in eine schwierige Abhängigkeit brachte. „Wir durften Software entwickeln, aber keine echten Entscheidungen treffen“, schildert ein Mitarbeiter frustriert. Dadurch blieb Cariad stets machtlos und unfähig, die eigene strategische Richtung zu bestimmen. Wichtige Entscheidungen wurden immer wieder blockiert oder verzögert, was den Fortschritt massiv bremste. Die Folge war dauerhafte Ineffizienz und ein hohes Maß an interner Frustration.
Wie sich Cariad entwickelt hat
Die Geschichte von Cariad ist in wenigen Jahren zu einer Blaupause für misslungene Transformation geworden. Angefangen hat alles 2019, als VW-Chef Herbert Diess die Car.Software Organisation als interne Einheit ins Leben rief. Schon 2021 folgte die offizielle Gründung von Cariad – mit dem Anspruch, nach SAP das größte europäische Softwareunternehmen zu werden.
Im selben Jahr übernahm Cariad die problembehafteten Plattformen 1.1 und 1.2 von Audi und Porsche. Die ersten Krisensymptome wurden sichtbar, eine „Task Force“ für das ständige Krisenmanagement wurde eingerichtet. 2022 kam die Quittung: Eine McKinsey-Studie attestierte massive strukturelle Probleme, Softwareverzögerungen sorgten für verschobene Modellanläufe. Mit dem Abgang von Diess und dem Wechsel zu Oliver Blume begann eine neue Führungsära.
2023 folgte unter Peter Bosch der nächste Neustart, begleitet von der Ankündigung, rund ein Drittel der Stellen abzubauen. Im Jahr 2024 der nächste Paukenschlag: Der milliardenschwere Deal mit Rivian wurde ohne Einbindung von Cariad abgeschlossen – ein klares Signal, wie es um das Standing der Softwaretochter bestellt war. Seit 2025 läuft ein massives Abfindungsprogramm, das Unternehmen schrumpft weiter. Bis 2029 gilt noch eine Beschäftigungsgarantie, aber was danach kommt, ist offen. Insgesamt hat der Konzern rund 14 Milliarden Euro in die Softwarevision investiert – das Ergebnis ist alles andere als vorzeigbar.
Übernahme von Altlasten statt Innovationsfokus
Ursprünglich sollte Cariad die neue Zukunftsplattform 2.0 bauen. Doch dann kam es anders: Cariad wurde noch mit den Altprojekten 1.1 und 1.2 aus Audi und Porsche beauftragt – Systeme, die dort schon vor dem Kollaps standen. Ein Mitarbeiter bringt es auf den Punkt: „Wir sollten die Zukunft bauen, stattdessen löschten wir ständig Brände.“ Die technische Realität war absurd: „Die 1.2 hatte 200 verschiedene Zulieferer, das System war so überladen, dass der Großteil der Rechenleistung nur für Sonderwünsche draufging.“ Zwischen Radars, Kameras und Steuergeräten von zig Lieferanten funktionierte die Kommunikation nicht. Der ursprüngliche Fokus auf Innovation ging so völlig verloren. Die Folge: ständiger Krisenmodus, kein klarer Kurs und kaum Raum für echte Entwicklung.
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Software-Firma ohne eigene Entwickler
Was für ein Softwareunternehmen anmutet, war in Wahrheit ein Sammelbecken für Projektmanagement. „Ich hatte Testmanager und Projektleiter, aber keinen einzigen Coder im Team“, berichtet ein Insider. Dieses Missverhältnis bestätigt auch das Interview mit Branchenkenner Joachim Langenwalter, der sich seit Jahren mit der Digitalisierung der Automobilindustrie beschäftigt: „Nur rund zehn Prozent der Mitarbeitenden programmierten tatsächlich. In einer funktionierenden SDV-Organisation müssten es 70 Prozent sein.“ Raasch bezeichnet Cariad als „teuren Durchlauferhitzer“, der Software nur vom Tier-1-Zulieferer abholte und intern weiterreichte. Die Kompetenz zum Entwickeln fehlte völlig, was Cariad teuer, langsam und ineffizient machte. Am Ende verwaltete man vor allem die Arbeit anderer statt selbst zu liefern.
Wie die LinkedIn-Community auf den Beitrag reagierte
Der LinkedIn-Post von Philipp Raasch zum Cariad-Desaster sorgte für breite Resonanz in der Branche (Stand 2.6.: Über 230 Kommentare nach einem Tag). Viele Kommentatoren lobten die schonungslose Analyse und sahen die beschriebenen Missstände auch in anderen Konzernstrukturen bestätigt. Typisch ist etwa das Feedback von Uwe Liskow: „Diese alten Bewahrer und Bereichsfürsten einfach gnadenlos loswerden, egal was es kostet, weil das billiger ist, als sie an Bord zu behalten.“ Auch die Kritik an den „verkrusteten Machtstrukturen“ und dem ausgeprägten Egoismus im Management wurde immer wieder aufgegriffen.
Es gab aber auch andere Stimmen: Marco Theiss etwa widerspricht dem reinen „Aufbrechen“ der Strukturen und warnt vor einer Gewalt-Kultur. Seiner Ansicht nach gelingt Transformation nicht durch radikalen Umbruch, sondern durch Kooperation und Bewusstseinswandel. Auch einzelne Stimmen relativieren die Kritik an der bequemen Arbeitskultur: Einige ehemalige oder aktuelle Cariad-Mitarbeiter betonen, dass viele Teams trotz aller Widrigkeiten engagiert und mit hoher Eigenmotivation gearbeitet haben.
Zudem wird aus den Kommentaren deutlich, dass viele die strukturellen Probleme nicht als exklusives Cariad-Phänomen sehen – sondern als Symptom einer ganzen Industrie, die sich mit echter Transformation schwer tut. So bringt es Kai Hellmuth auf den Punkt: „Unsere größte Schwäche ist, uns zu verändern – das betrifft Organisation, Prozesse und vor allem Kultur. Sicher nicht die Technologie!“
Cariad als Spielball interner Markenkriege statt Synergien
Das Problem hatten wir vorhin bereits angesprochen: Zwischen Audi, Porsche und VW tobte ein Machtkampf, der jede Effizienz blockierte. Jede Marke wollte ihr eigenes Süppchen kochen, niemand Kompetenzen abgeben. „Audi wollte dies, Porsche das, VW wieder was anderes. Wir haben teils dasselbe Feature sechs Mal entwickelt, weil jede Marke einen anderen Flow wollte“, beschreibt ein Insider die absurde Lage. Besonders drastisch: Porsche entwickelte für nur 250.000 Autos im Jahr eine eigene Plattform, nur um sich von Audi abzugrenzen oder in anderen Worten zusammengefasst „Kindergarten-Niveau“. Raasch resümiert: „Statt Synergien zu nutzen, entstanden Konkurrenz und Doppelarbeit, die das ganze Projekt lähmten.“
Auch Langenwalter sieht hier einen der zentralen Bremsklötze für Digitalisierung und Tempo: Solange jeder Geschäftsbereich seine Pfründe verteidigt, bleibt die Idee einer modernen, agilen Entwicklung Illusion.
Falsche Führungskräfte aus der alten Welt
Die Spitze von Cariad bestand aus klassischen Konzernmanagern mit Hardware-Fokus; die Digitalisierung war Neuland. Langenwalter bringt es klar auf den Punkt: „Man steckt dieselben Leute in dieselben Hierarchien und erwartet ein anderes Ergebnis. Das funktioniert nicht.“ In der Praxis äußerte sich das so: Es gab zahllose Statusmeetings, PowerPoint-Orgien und endlose Abstimmungsschleifen, aber keine schnellen technischen Entscheidungen. Raasch: „Die Strukturen bei VW fördern Menschen, die vor allem an ihrer Karriere interessiert sind. Das Produkt ist zweitrangig.“ Echte digitale Transformation blieb so lediglich Wunschdenken.
Und auch hier liefert Langenwalter aus seinem Beratungsalltag das passende Praxisbeispiel: Führungskräfte, die für technische Transformation eigentlich gebraucht würden, landen selten in Schlüsselfunktionen und verlassen im Zweifel das Unternehmen, bevor sich etwas bewegt.
Alles zur Automotive Computing Conference
Die Automotive Computing Conference konzentriert sich auf die Herausforderungen der Sicherheit, der funktionalen Sicherheit, der Cloud-Konnektivität und der zunehmenden Komplexität des Fahrzeugdesigns. Das Ziel ist es, traditionelle Ansätze zu revolutionieren und an die Bedürfnisse der Automobilindustrie anzupassen. Hochkarätige Referenten werden am 13. und 14. November 2025 in München in die Welt des Automotive High Performance Computing eintauchen und ein breites Spektrum an Aspekten abdecken.
Weitere Infos zur Automotive Computing Conference gibt es hier oder auf dem LinkedIn-Kanal.
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Zudem gab es 2025 auch die 2. ACC in Amerika, die dritte folgt am 25. und 26. März 2024 in Detroit.
Komfortable Kultur bremst Wettbewerbsfähigkeit
Auf dem Papier war Cariad ein attraktiver Arbeitgeber: keine Überstunden, Homeoffice-Garantie, überdurchschnittliches Gehalt. „Bei Cariad wird im Jahresschnitt unter 40 Stunden gearbeitet, Freitag 11 Uhr war Wochenende“, erinnert sich ein Mitarbeiter. Für den Kampf mit Tesla und den chinesischen Herausforderern war das jedoch ein echter Wettbewerbsnachteil. Raasch bringt es mit bitterem Humor auf den Punkt: „So gewinnt man kein Rennen gegen Asien.“ Die Wohlfühlkultur war bequem, aber sie förderte Trägheit und stand Innovation und Geschwindigkeit im Weg. Zur Erinnerung: In China gibt es das 996-Arbeitssystem. Das steht für Arbeiten von 9:00 Uhr morgens bis 09:00 Uhr abends – an 6 Tagen pro Woche.
Was bleibt nach dem Cariad-Desaster?
Für Raasch und Langenwalter ist klar: Wer die Automobilindustrie zukunftsfähig machen will, muss radikal umdenken. Erstens: Klare Strukturen und echte Verantwortung statt endloser Abstimmung und Fremdsteuerung. Zweitens: Technische Kompetenz in den Mittelpunkt rücken – weniger Manager, mehr Macher und Entwickler. Drittens: Den Mut aufbringen, alte Machtstrukturen und Komfortzonen konsequent zu durchbrechen.
Kurz: Transformation gelingt nur, wenn Unternehmen schlanker, schneller und mutiger werden. Wer weiter wie bisher agiert, hat in der neuen Autowelt keinen Platz mehr.
Der Autor: Dr. Martin Large

Aus dem Schoß einer Lehrerfamilie entsprungen (Vater, Großvater, Bruder und Onkel), war es Martin Large schon immer ein Anliegen, Wissen an andere aufzubereiten und zu vermitteln. Ob in der Schule oder im (Biologie)-Studium, er versuchte immer, seine Mitmenschen mitzunehmen und ihr Leben angenehmer zu gestalten. Diese Leidenschaft kann er nun als Redakteur ausleben. Zudem kümmert er sich um die Themen SEO und alles was dazu gehört bei all-electronics.de.