Joachim Langenwalter, Gründer und CEO, TMT CoPilots

Veraltete Organisationsstrukturen, fehlende Datenkompetenz und mangelnder Entwicklungsgeschwindigkeit und Kundenorientierung im Vergleich zu China: Im Interview analysiert Joachim Langenwalter,Gründer und CEO, TMT CoPilots, warum viele SDV-Programme scheitern – und was europäische Hersteller jetzt radikal ändern müssen. (Bild: Ultima Media Germany / TMT CoPilots)

Joachim Langenwalter hat in der Automobilbranche schon viel gesehen – bis hin zur softwaredefinierten Fahrzeugplattform. Als Branchenkenner hat er nicht nur zahlreiche technologische Transformationen miterlebt, sondern sie auch aktiv mitgestaltet. So war er beispielsweise bei Nvidia für Automotive Software verantwortlich, leitete bei Stellantis die globale Software- und Hardwareentwicklung und verantwortete zuvor bei Mentor Graphics das Automotive-Geschäft. Heute ist er unter anderem Mitglied des Fachbeirats der Konferenz "Automotive Software Strategies" und Gründer von TMT CoPilots, wo er Hersteller und Zulieferer bei der Neuausrichtung im Software- und KI-Zeitalter berät. Im Interview analysiert er, warum viele SDV-Programme scheitern, wie China die Spielregeln verändert hat und welche Fehler europäische Unternehmen vermeiden müssen.

Herr Langenwalter, beim Thema Software-defined Vehicles sprechen Sie nicht nur von einem Technologiewandel, sondern von einem grundlegenden Systemwechsel. Was bedeutet das konkret?

Der Wandel zum Software-defined Vehicle (SDV) ist kein rein technologisches Thema. Es reicht nicht, eine neue EE-Architektur zu entwickeln oder eine agile Methode einzuführen. Ich sehe vier gleichwertige Dimensionen, die in der Automobilindustrie transformiert werden müssen: Kultur, Geschäftsmodelle, Kundenbeziehung und ja, auch die Technologie. Und das alles gleichzeitig. Viele glauben, sie könnten SDV in bestehende Siloorganisationen „einbauen“, aber das funktioniert nicht. Ich nenne das gerne Game of Thrones: Wenn man dieselben Leute in dieselben Hierarchien mit denselben Netzwerken steckt und dann ein anderes Ergebnis erwartet, funktioniert das nicht.

Ein anschauliches Beispiel ist die Idee vom Speedboat: Man will eine agile, schnelle Organisation aufbauen – aber steckt die alte Crew hinein. Das Boot sinkt, bevor es den Hafen verlässt. Viele Organisationen sind in jahrzehntelang gewachsenen Strukturen gefangen, in denen politische Interessen und die Größe der Organisation dominieren und technologische Fähigkeiten zweitrangig sind.

Was die meisten an dieser Stelle unterschätzen: Es gibt in Europa kaum technische Karrierepfade, wie sie in Techunternehmen selbstverständlich sind. Stattdessen dominieren Managementkarrieren – mit einem Übergewicht an Projekt-, Produkt-, Zulieferer-, Prozess- und Integrationsmanagern. Aber genau dort fehlen oft die technischen Capabilities.  In der Technischen Karriereleiter muss ein SW, KI oder Domänen Experte genauso bezahlt werde wie ein VP oder SVP in der Managementkarriere. Solange diese strukturellen Probleme bestehen, wandern Talente ab – zu Apple, Google oder Startups. 

Ein weiteres Beispiel ist die Personalstruktur vieler sogenannter Softwareeinheiten. Ich habe Fälle gesehen – etwa bei der Softwaresparte eines großen deutschen OEMs, da haben nur rund zehn Prozent der Mitarbeitenden überhaupt programmiert. Der Rest waren die bereits erwähnten Managementfunktionen. In einer funktionierenden SDV-Organisation müsste es genau umgekehrt sein: Mindestens 70 Prozent der Leute sollten selbst Code schreiben – sonst fehlt die Umsetzungsfähigkeit.

Zitat

„Ein top KI- oder SW-Entwickler erzeugt mehr Kundenwert mehr als 30 Durchschnittsentwickler oder Vielzahl von Managern.“

Joachim Langenwalter, Gründer und CEO TMT CoPilots

Was machen asiatische Hersteller aus Ihrer Sicht anders beziehungsweise besser?

Die asiatischen Hersteller – insbesondere in China – denken das Thema Fahrzeug radikal anders. Es geht dort nicht mehr um ein Auto im klassischen Sinne, sondern um ein vernetztes Ökosystem. Nehmen wir das Beispiel Xiaomi: Das Fahrzeug ist dort nicht nur Transportmittel, sondern Teil eines umfassenden digitalen Alltags. Smart Home, Smartphone, Smart Mobility, Smart Office – alles ist nahtlos integriert. Wenn ich ein Smart Device von Xiaomi wie eine Kamera zu Hause habe, sehe ich diese im Auto. Wenn jemand an der Haustür klingelt, kann ich aus dem Fahrzeug heraus mit dem Paketboten interagieren – zum Beispiel die Tür öffnen oder mit ihm sprechen. Das Auto wird zur Steuerzentrale meines Lebens.

In Europa hingegen wird noch viel zu oft funktions- und komponentenzentriert gedacht. Es gibt Silos – Infotainment, ADAS, Powertrain – die alle für sich optimiert werden. Was in China passiert, ist eine User-zentrische Optimierung auf Systemebene – oder wie ich es nenne: ein Customer-defined Vehicle statt eines rein Software-defined Vehicle. 

Hinzu kommt ein kultureller Faktor: Nach dem Gefühl, jahrzehntelang von westlichen Marken abhängig gewesen zu sein, setzen chinesische Kunden heute bewusst auf lokale Anbieter. Und die liefern – technologisch wie funktional – überzeugende Produkte, oft schneller und günstiger. Diese Systemdenke funktioniert nur, weil sie auf konsolidierte Datenräume zugreifen – und daraus echte, nutzerzentrierte Funktionen entwickeln. In Europa dagegen herrscht oft noch Datenwildwuchs und Silodenken.

Zitat

„China baut keine Autos – China baut Ökosysteme.“

Joachim Langenwalter, Gründer und CEO TMT CoPilots

Alles Infos zur Konferenz Automotive Software Strategy

Die Konferenz "Automotive Software Strategies 2025" beleuchtet in München am 21. und 22. Mai 2025 Trends zu softwaredefinierten Fahrzeugen, KI und neuen Geschäftsmodellen. Jetzt informieren!
Was erwartet Sie bei der Automotive Software Strategies Conference 2025? Entdecken Sie Themen und Sprecher für die Zukunft der Automobilbranche. (Bild: SV Veranstaltungen)

Am 21. und 22. Mai 2025 findet in München die 5. Konferenz Automotive Software Strategy statt. Zu den Themen zählen unter anderem das Software-Defined Architectures, intelligentes Datensammeln sowie Safety&Security. Aber nicht nur die Vorträge stehen im Vordergrund.

Weitere Informationen zur Automotive Software Strategy finden Sie hier.

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In Ihrer Analyse spielen Daten eine Schlüsselrolle – warum sind sie so entscheidend für den Erfolg von SDV?

Daten sind der Schlüssel zu allem, was im SDV relevant ist – sei es KI, Personalisierung, Funktionserweiterung oder Effizienz. Aber Daten allein reichen nicht. Es geht darum, wie ich sie nutze, wie ich sie verarbeite und welche Capabilities ich dafür aufbaue. Ich brauche eine Kombination aus intelligenter Datenerfassung, Data Factory und technische Fähigkeiten, die in der Lage ist, relevante Daten zu aufzuzeichnen, zu kuratieren, zu analysieren, zu verarbeiten und in Entwicklung und Kundenfunktionen zu überführen. Die meisten OEMs wissen nicht mal, was sie alles speichern sollen – da entstehen dann absurde Ausschreibungen über Exabytes an Daten, also Milliarden Gigabyte, weil keiner filtert.

Zulieferer sind besonders benachteiligt: Ihnen fehlen fast immer die Daten, weil OEMs sie nicht teilen. Wie soll ein Zulieferer ein datenbasiertes System entwickeln, wenn er gar nicht weiß, wie es eingesetzt wird? Gleichzeitig fehlen bei vielen Unternehmen die internen Strukturen, um mit datengetriebenen Prozessen überhaupt umgehen zu können. Und wir reden noch nicht mal von KI. Wer nicht datenbasiert arbeitet, bleibt im Blindflug.

Zitat

„Wer keine Daten hat, entwickelt im Blindflug.“

Joachim Langenwalter, Gründer und CEO TMT CoPilots

Was bedeuten die sich verändernde Rolle der Daten für die Zusammenarbeit zwischen OEMs und Zulieferern?

Die klassische Logik – Lastenheft, Vergabe, Entwicklung, Lieferung, SOP (Anm. d. Red.: Start of Production), Projektende – funktioniert im SDV-Zeitalter nicht mehr. Ich muss kontinuierlich mit meinen Partnern zusammenarbeiten. Ich brauche Zugriff auf Daten, auf Updates, auf Rückmeldungen. Ein Software-Feature endet nicht mit dem Produktionsstart – es fängt da erst an. Wenn ich dann alle vier Jahre den Zulieferer wechsle, ist das katastrophal. Die OEMs versuchen oft, auf Armlänge mit ihren Partnern zu bleiben – aber mit dieser Haltung läuft man irgendwann gegen eine Wand. Und manchmal muss erst die Nase bluten, bevor man die Hand ausstreckt.

Wir brauchen langfristige, vertrauensvolle Partnerschaften. Die Basis dafür ist Offenheit: Quellcode-Sharing, gemeinsame Entwicklungsplattformen und White-box-Modelle. Open Source ist dabei kein Risiko, sondern eine Chance. Wenn viele das gleiche Grundsystem nutzen, können sich alle auf das konzentrieren, was den Unterschied macht. Und das erhöht die Innovationsgeschwindigkeit. Wer sich verschließt, wird mittelfristig keine Rolle mehr spielen

Was funktioniert in der Praxis? Gibt es positive Beispiele?

Erfolg sehe ich da, wo Unternehmen den Mut haben, eine neue Organisation aufzubauen – und sie auch wirklich unabhängig zu machen. Das heißt: Tech-Kultur, klare Kundenziele, neues Team. Die bestehende Organisation darf das nicht blockieren. Man spricht oft von der „doppelten S-Kurve“: Eine Organisation läuft aus, während eine neue aufgebaut wird. Dabei holt man gezielt Mitarbeiter aus der alten Welt in die neue – aber nur, wenn sie zum Mindset passen. Und man misst Erfolg nicht an politischen Machtspielen, sondern an Fähigkeiten, die Kundenwert erzeugen.

Leider ist das Gegenteil häufig der Fall: Eine neue Einheit wird gegründet – aber mit alten Prozessen, alten Entscheidern, alten Politiken gefüllt. Dann hat man nur einen neuen Namen, aber keine Veränderung. Es ist erschreckend, wie viele Unternehmen das nicht erkennen. Wie gesagt, sie bauen eine Software-Einheit, aber 90 % der Leute schreiben keinen Code. Das kann nicht gutgehen.

Grafik zur doppelten S-Kurve mit Fokus auf Innovationssprung von alten zu neuen Projektstrukturen in Unternehmen
Die doppelte S-Kurve zeigt, wie Unternehmen durch unabhängige Tech-Einheiten mit echtem Kundenfokus erfolgreich transformieren können. (Bild: Joachim Langenwalter)

Über Joachim Langenwalter

Joachim Langenwalter studierte Luft- und Raumfahrttechnik in München und arbeitete anschließend über 20 Jahre in der Electronic Design Automation bei Synopsys, Mentor Graphics und Mathworks. Er verantwortete dort unter anderem Entwicklung und Einsatz von EE-Architekturen, ECUs, SoCs, Betriebssystemen und kompletten Softwareanwendungen für die Automobilindustrie.

Ab 2015 leitete er bei Nvidia die gesamte Automotive-Softwareentwicklung für Cockpit und Autonomes Fahren. Danach wechselte er zu Stellantis, wo er weltweit die neue Software- und Hardware-Organisation für 14 Fahrzeugmarken aufbaute – inklusive Partnerschaften mit Qualcomm, Amazon, Foxconn und Vector. Zuletzt war er SVP bei Autobrains, und aktuell Mitglied im Software-Beirat von Mercedes-Benz, bei dSPACE und verschiedenen Branchengremien. Heute ist er Gründer und CEO von TMT CoPilots sowie Executive Advisor für technologische, kulturelle, geschäftsmodellbezogene und kundenorientierte Transformationen.

Seine Themenschwerpunkte: Software und Hardware (EE-Architektur, Chipdesign), KI, datengetriebene Entwicklung, autonomes Fahren, Cockpit, Connectivity, Cloud-Dienste – und die organisationsstrategische Umsetzung all dessen. Er sitzt zudem im Fachbeirat der Konferenz „Automotive Software Strategies“.

Zitat

„Die größte Blockade der Transformation sitzt oft im mittleren Management.“

Joachim Langenwalter, Gründer und CEO TMT CoPilots

Warum lohnt es sich, die Automotive Software Strategies zu besuchen?

Weil die Veranstaltung ein sehr dynamisches Team hat, das offen für disruptive Lösungen ist – und nicht mehr nur auf evolutionäre Ansätze setzt. Besonders spannend ist das World-Café-Format, bei dem es um echte, interaktive Diskussionen geht. Diskutiert werden dort Themen wie „Dealing with Uncertainties“ – darunter fallen geopolitische Entwicklungen wie der Handelskrieg zwischen den USA und China, neue Allianzen zwischen Automobilherstellern und Zulieferern sowie technologische Herausforderungen rund um KI und Daten.

Die Konferenz bringt Entscheider, Strategen und Entwickler physisch an einen Tisch. Es geht nicht um Frontalpräsentationen, sondern um Austausch auf Augenhöhe: kundenzentriert, praxisnah und mit Blick auf die gesamte Wertschöpfung – von der Idee bis zur Umsetzung. Wer verstehen will, wie man unter unsicheren Rahmenbedingungen erfolgreich handelt, findet hier Antworten und Impulse.

Und sind Sie optimistisch, dass der Wandel gelingt?

Ich bin Realist. Der Wandel ist möglich – aber nicht garantiert. Es gibt Firmen, die es ernst meinen, die mutig sind und die den Wandel aktiv gestalten. Und es gibt andere, die lieber ihren Status  und Strukturen verteidigen, als in die Zukunft zu investieren. Der Druck steigt – durch China, durch neue Wettbewerber, durch Kundenanforderungen. Das ist gut. Aber Transformation ist kein Selbstläufer.

Wer SDV ernst nimmt, muss mehr tun als neue Tools einführen. Es braucht einen mentalen, strukturellen und kulturellen Umbau. Wer das schafft, kann das Auto neu definieren – und dabei gewinnen.

Der Autor: Dr. Martin Large

Martin Large
(Bild: Hüthig)

Aus dem Schoß einer Lehrerfamilie entsprungen (Vater, Großvater, Bruder und Onkel), war es Martin Large schon immer ein Anliegen, Wissen an andere aufzubereiten und zu vermitteln. Ob in der Schule oder im (Biologie)-Studium, er versuchte immer, seine Mitmenschen mitzunehmen und ihr Leben angenehmer zu gestalten. Diese Leidenschaft kann er nun als Redakteur ausleben. Zudem kümmert er sich um die Themen SEO und alles was dazu gehört bei all-electronics.de.

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