Der Startschuss für den Aufbau des neuen Industriezweiges „Halbleitertechnologie“ in der DDR fiel 1951 in Teltow bei Berlin, wo erste Forschungsarbeiten zu Halbleitern im Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik (WBN) erfolgten. 1952 übernahm der aus der Sowjetunion zurückgekehrte Wissenschaftler Dr. Matthias Falter die WBN-Forschungsabteilung, und schon 1953 stellten seine Mitarbeiter die ersten Muster von Spitzentransistoren her. Das war zeitlich noch etwa vergleichbar mit der Entwicklung in Westdeutschland, wo der Vorstand von Siemens Anfang April 1952 die Gründung einer Halbleiterfabrik beschloss. Kurz danach, im Mai 1952, fand in den USA das berühmte Symposium der Bell-Laboratorien statt, auf dem die Erfinder ihre seit der Erfindung des Transistors Ende 1947 gesammelten Erkenntnisse bei der Herstellung von Punktkontakttransistoren einem internationalen Teilnehmerkreis vorstellten. Durch die Ergebnisse des Symposiums bestärkt, begann man bei Siemens ab 1955 mit dem Bau einer neuen Fabrik in der Münchener Balanstraße.
Halbleiter Potenzial in der DDR früh erkannt
Auch in der DDR hatten Wissenschaftler wie Matthias Falter in Teltow und Werner Hartmann in Dresden die enorme Bedeutung der neuen Halbleitertechnologie erkannt, aber erst im 1956 beginnenden Fünfjahrplan legten die Wirtschaftsplaner die „Aufnahme der Serienproduktion von Kristalldioden und Transistoren“ als strategisches Ziel fest. Allerdings waren die Bedingungen für den Aufbau einer Halbleiterindustrie in der DDR nicht die besten. Hemmende Faktoren waren vor allem die im Osten besonders umfangreichen Reparationen und Demontagen, das Wirtschaftsembargo der westlichen Länder (COCOM) und die schlecht funktionierende Arbeitsteilung im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die deutsche Teilung zerschnitt darüber hinaus die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost und West. Daher musste die verbliebene Investitionskraft in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der späteren DDR zunächst auf den Aufbau der Basisindustrien (Energie, Chemie, Stahl) konzentriert werden. Bildlich gesprochen fehlten die Steine, die im damaligen Stalinstadt beim Aufbau des Eisenhüttenkombinates vermauert wurden, für den Aufbau des neuen Halbleiterwerkes in Frankfurt/Oder. Die wichtigsten Halbleiter herstellenden Betriebe der DDR befanden sich in Dresden (AMD/ZFTM), Erfurt (FWE), Frankfurt/Oder (HFO), Berlin (WF), Großräschen (GWG), Neuhaus (RWN) und Stahnsdorf (GWS).
Welchen Einfluss die Halbleiter-Industrie auf die DDR hatte
Darüber hinaus gab es zahlreiche Zulieferbetriebe für technologische Spezialausrüstungen und Halbleitermaterialien, wie zum Beispiel die Betriebe Spurenmetalle Freiberg (Germanium- und Silizium-Scheiben), Isolierwerke Zehdenick (Trägerstreifen), Elektroglas Ilmenau (Gehäuse) und Elektromat Dresden (technologische Ausrüstungen). Um den wissenschaftlichen Vorlauf für die Halbleiterindustrie zu schaffen, gründeten die Verantwortlichen diverse Institute, zu denen das 1960 gebildete Institut für Halbleitertechnik in Stahnsdorf (IHT, Leitung Prof. Matthias Falter), die Arbeitsstelle für Molekularelektronik in Dresden (AME, 1961, Leitung Prof. Werner Hartmann) und das Institut für Halbleiterphysik in Frankfurt/Oder (IHP, 1983) zählen.
Halbleiterwerk Frankfurt/Oder (HFO) produziert ab 1961
Das Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder war zunächst als Produktionsstandort für die in Teltow entwickelten Transistoren gedacht, aber bald entstanden dort auch eigene Entwicklungskapazitäten. Die Halbleiterproduktion begann im Jahr 1958 in einer ehemaligen Berufsschule. Erst Anfang 1961 ging die erste neuerbaute Produktionshalle im Frankfurter Ortsteil Markendorf in Betrieb.
Vergleicht man nun das Erscheinungsjahr des Mesa-Transistors AF139 von Siemens mit dem des vergleichbaren HFO-Mesa-Transistors GF145, so beträgt der Rückstand zirka drei Jahre. Beim AF239 und GF147 sind es etwa fünf Jahre. Diese nur beispielhaften Vergleiche zeigen, dass der schon in der Aufbauphase entstandene Rückstand weiterhin bei etwa fünf Jahren lag – ein Zeitraum, der in der schnelllebigen Halbleiterindustrie nur schwer aufzuholen war.
Ende der 60er Jahre änderte die DDR-Regierung die Organisation ihrer Volkswirtschaft grundlegend, um eine „Neue Ökonomische Politik“ zu etablieren, die den Betrieben mehr Eigenständigkeit erlauben sollte: Aus den bisherigen Industrievereinigungen (VVB) entstanden durch Umorganisation die Kombinate. Aus diesem Grund veränderte sich das Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder im Jahr 1969 zum Leitbetrieb für das gleichnamige Kombinat.
Der nächste große technologische Schritt folgte 1971 mit dem Beginn der Herstellung von integrierten Schaltungen. Das erste IC, die TTL-Schaltung D100, entwickelte dabei noch die Dresdener Arbeitsstelle für Mikroelektronik (AMD). Als erstes analoges IC folgte Mitte der 70er Jahre ein internationaler Standardtyp, der Operationsverstärker A109. Um die steigende Nachfrage zu bedienen, entstanden in den folgenden Jahrzehnten im HFO neue Fertigungslinien. 1989 lieferte das Werk an der polnischen Grenze 110 Millionen ICs (70 % der DDR-Produktion) sowie 9,7 Millionen Transistoren und 150 Millionen Transistorchips (95 % der DDR-Produktion).
Funkwerk Erfurt (FWE) produziert unipolare Transistoren und Schaltkreise
Während sich in Frankfurt (Oder) – natürlich staatlich gesteuert – die Herstellung von bipolaren Bauelementen konzentriere, übernahm das Funkwerk Erfurt (FWE) diese Rolle für unipolare Transistoren und Schaltkreise. Entstanden aus einem ehemaligen Telefunken-Betrieb war das FWE in den 50er und 60er Jahren nach dem WF in Berlin der zweitgrößte DDR-Hersteller von Röhren. 1966 begann dann die Produktion von Halbleiterbauelementen mit der Herstellung von Dioden. Erste unipolare Schaltkreise folgten ab 1971, zeitgleich mit den ersten TTL-Schaltungen aus dem HFO. Das Jahr 1971 kennzeichnet daher den Beginn der Ära der Herstellung von integrierten Schaltkreisen in der DDR.
Die Produktion von unipolaren Schaltkreisen begann in Erfurt mit den fünf Logik-Bauelementen U101 bis U105. In den folgenden Jahren kamen weitere ICs hinzu, darunter Uhrenschaltkreise, Schaltkreise für Herzschrittmacher, Gate-Arrays, Speicherschaltkreise und Mikroprozessoren. Auch den ersten Mikroprozessor der DDR, den U808, stellte das Funkwerk Erfurt ab 1978 her – und zwar in einer n-Silicon-Gate-Technologie mit minimalen Strukturbreiten von 10 µm. 1980 folgte der U880, dessen Vorbildtyp der Zilog Z80 war, und 1981 begann die Produktion einer neuen Reihe von CMOS-Logik-Bauelementen: der Baureihe U4000. Inklusive Mikroprozessoren fertigte die DDR 80 % ihrer unipolaren Schaltkreise in Erfurt; 1989 waren das etwa 35 Millionen Schaltkreise.
Rückstand der DDR-Halbleiterindustrie wächst
Verglichen mit dem internationalen Stand begann die Ära der integrierten Schaltungen in der DDR im Jahr 1971 sehr spät. In den USA hatte die IC-Produktion schon 1960 begonnen. Selbst die CSSR hatte hier mit der Vorstellung von sechs Logik- und fünf Analogschaltungen auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1969 einen deutlichen Vorsprung vor der DDR. Wie Bild B10x an zwei Beispielen verdeutlicht, hatte sich der Rückstand Anfang der 70er Jahre im Vergleich zur Transistorentwicklung eher erhöht als verringert. Dieser Vergleich zeigt natürlich nur zwei beispielhaft ausgewählte Produktkategorien und ist insofern unvollständig. Für einen umfassenden Vergleich müssten auch Mikroprozessoren und Speicher sowie technologische Kenngrößen wie Waferdurchmesser, Waferkapazität und Ähnliches herangezogen werden.
Dieser Rückstand war auch auf eine falsche Richtungsentscheidung in den 60er Jahren zurückzuführen, denn die Verantwortlichen legten damals den Schwerpunkt der Entwicklung nicht auf die integrierten Schaltungen sondern auf die Dünnschicht-Hybridtechnik. Ein Artikel aus dem Jahr 1965 zeigt diese Favorisierung sehr deutlich: „Auf Grund der Entwicklungstendenzen ist abzuschätzen, dass die Dünnschichttechnik neben den Festkörperschaltungen in den nächsten Jahren die Entwicklung der Elektronik beherrschen wird.“
Im Juni 1977 fand endlich ein Kurswechsel statt, nachdem das SED-Zentralkomitee eine forcierte Entwicklung der Mikroelektronik beschlossen hatte. Eine unmittelbare Folge war eine Reorganisation der wichtigsten Mikroelektronikbetriebe, die nun ab 1978 im Kombinat Mikroelektronik Erfurt (KME) zusammengefasst wurden.
Dabei standen die Standorte Dresden und Erfurt im Zentrum der Mikroelektronikstrategie der DDR der 80er Jahre. Sie erhielten den überwiegenden Teil der Investitionen. In Erfurt entstanden ab Mitte der 80er Jahre neue Chip-Fabriken, so Erfurt Süd-Ost I (ESO I) im Jahr 1984 und ESO II im Jahr 1988. Die in ESO I realisierbare Strukturbreite lag bei 3 µm, der Scheibendurchmesser bei 4 Zoll und die Kapazität bei 600 Scheiben pro Tag. ESO II erreichte ein Technologieniveau von 2,5 µm und ebenfalls eine Kapazität von 600 Scheiben pro Tag. 1990 folgte die dritte Fabrik (ESO III) mit einem Technologieniveau von 1,5 µm und einer 5-Zoll-Linie. Die Erfurter Standorte hatten Ende 1989 etwa 8500 Beschäftigte.
1961: ZFTM Dresden entwickelt ICs
Das Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik Dresden (ZFTM) war aus der 1961 gebildeten Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (AME) unter Leitung von Prof. Dr. Werner Hartmann hervorgegangen.
Hartmann war 1945, ähnlich wie Matthias Falter, als Wissenschaftler in die Sowjetunion zwangsverpflichtet worden und arbeitete dort unter Leitung von Gustav Hertz in der Atomforschung. Als er nach seiner Rückkehr von den ersten integrierten Schaltungen von Kilby und Noyce erfuhr, erkannte er sehr schnell die Bedeutung dieser Erfindung. Während man sich in Teltow und Frankfurt/Oder auf die Herstellung von Transistoren konzentrierte, wollte Hartmann schon mit dem nächsten Schritt beginnen, der Herstellung integrierter Schaltungen. Unterstützung fand er dabei vor allem beim damaligen Chef der Plankommission, Erich Apel, der die herausragende Bedeutung der Mikroelektronik für die exportorientierte DDR-Industrie verstand. Mit seiner Hilfe erfolgt 1961 die Gründung der AME.
Trotzdem dauerte es einige Jahre, bis das Institut arbeitsfähig war und es ein Herstellungsverfahren für integrierte Schaltungen entwickeln konnte. Auch die notwendigen technologischen Spezialausrüstungen (Diffusionsöfen, Foto-Repeater) entwickelte AME in Zusammenarbeit mit Elektromat Dresden. 1968 erreichte AME das erste Etappenziel: die Herstellung von Mustern eines Logikschaltkreises – und „dies alles unter strengster Abschirmung von der Welt, in völliger Isolation, ohne jedes Vorbild“, wie Hartmann es formulierte. Ab 1969 transferierten die Verantwortlichen das Verfahren nach Frankfurt/Oder in die Produktion.
Im gleichen Jahr erfolgte eine Umbenennung in Arbeitsstelle für Mikroelektronik Dresden (AMD). 1976 änderte sich der Name nochmals – und zwar in Institut für Mikroelektronik (IMD). 1980 schließlich vereinigten sich das IMD und Elektromat Dresden zum Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik (ZFTM).
Das ZFTM war verantwortlich für die Entwicklung von Schaltkreisen in MOS- und CMOS-Technologien, deren Serienfertigung dann jeweils in Erfurt erfolgte. In Dresden selbst entstanden neu entwickelte Bauelemente auf einer 5-Zoll-Linie zunächst als Funktionsmuster und danach als Kleinserie. Bei der minimalen Strukturbreite hatte die DDR 1989 die 1-µm-Grenze erreicht. In Dresden wurden auch kundenspezifische Schaltkreise auf Basis eines Gate-Array- und eines Standardzellen-Systems hergestellt. 1987 wurde nochmals umorganisiert, das ZFTM in ZMD umbenannt und nun dem Kombinat Carl Zeiss Jena zugeordnet. AME hatte mit acht Mitarbeitern begonnen, bei ZFTM waren es Ende der 80er Jahre mehr als 3000 Beschäftigte.
Devisen und die COCOM-Liste
Kein Land ist in der Lage, alle für eine Halbleiterproduktion notwendigen technologischen Ausrüstungen und Materialien allein herzustellen. Weltweit haben sich deshalb Firmen auf die Herstellung solcher Anlagen und Materialien spezialisiert, und Investoren können diese heute ohne weiteres beschaffen. Für die DDR war dies aus zwei Gründen nicht möglich: einmal auf Grund der knappen Devisen und zum anderen auf Grund der COCOM-Liste, also des Embargos durch die USA und die westlichen Industriestaaten.
Die scheinbar naheliegende Möglichkeit, die benötigten Anlagen aus anderen RGW-Ländern, insbesondere der Sowjetunion, zu beziehen, funktionierte oft nicht. So hielt die Sowjetunion zum Beispiel Liefervereinbarungen über Plasmaätzer und Implanter für das 1-Mbit-DRAM nicht ein. Als Ausweg blieb nur die Umgehung des Embargos. Anlagen, die die DDR nicht selbst herstellen konnte, beschaffte der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Was aber für erste Muster und für die Pilotlinie noch funktionierte, wäre für die Serienfertigung nicht mehr realisierbar gewesen, weil hierfür eine große Anzahl dieser Anlagen erforderlich ist, deren Beschaffung den Rahmen gesprengt hätte.
Das Embargo erwies sich im Endeffekt als ein sehr wirksames Instrument, um die Teilnahme der DDR an der internationalen Arbeitsteilung zu verhindern. Zwar gelang es in vielen Fällen, das Embargo zu umgehen, weil westliche Firmen damit einen Extraprofit erzielen konnten, doch die Kosten waren hoch, weil der branchenübliche Preisaufschlag 30 bis 80 % betrug. Auch mussten die Anlagen erst in aufwendiger Entwicklungsarbeit an die vorhandenen Systeme angepasst werden. Das geflügelte Wort „Gut kopiert ist besser als teuer erfunden“ traf hier ganz sicher nicht zu, zumal auch der eigene Entwicklungsaufwand für den 1-MBit-Speicher hoch war.
Enorme Summen für den Aufbau der Halbleiter- und Mikroelektronikindustrie in der DDR
Für den Aufbau der Mikroelektronik in der DDR wendete die DDR-Regierung enorme Summen auf; allein zwischen 1986 und 1990 waren das rund 14 Milliarden Mark für Forschung und Entwicklung sowie zusätzlich 15 Milliarden Mark für Investitionen, was etwa 7 % der gesamten Industrieinvestitionen entsprach. Begründet war diese Politik in der Notwendigkeit, wichtige Exportprodukte der DDR, wie zum Beispiel Werkzeugmaschinen mit elektronischen Steuerungen konkurrenzfähig zu halten. Das führte zur Vernachlässigung anderer Industriezweige und reichte doch nicht aus, den Rückstand gegenüber den führenden westlichen Mikroelektronik-Konzernen zu verringern. War die Wirtschaftskraft der DDR also zu klein für ihr Mikroelektronik-Programm? Wirtschaftswissenschaftler haben diese Frage ausführlich untersucht und sie mit einem klaren „Ja“ beantwortet.
Jörg Berkner
(av)