Bei der Elektrifizierung von Fahrzeugen kommen heute im Wesentlichen elektrisch angetriebene Achsen (E-Achsen) zum Einsatz. Diese integrieren den Motor, den Inverter sowie die Untersetzungs- und Differenzialgetriebe in einer Einheit und werden vorzugsweise an der Hinterachse eingebaut.
Diese E-Achsen passen nicht optimal für alle elektrische Fahrzeugtypen, wie z. B. leichte und kompakte (Transport) -Fahrzeuge der Klasse L5e, L6e und L7e (Light Electric Vehicles, LEV) für innerstädtische Anwendungen. Diese drei- oder vierrädrigen Fahrzeuge stellen sehr hohe Anforderungen an das Verhältnis zwischen Abmessungen, Ladevolumen und zulässigem Ladegewicht. Außerdem sollten solche Fahrzeuge möglichst wendig sein, um auch in beengten Innenstädten ihre Lieferziele gut anfahren zu können.
Die genannten Anforderungen lassen sich mit integrierten Corner-Modulen, die als komplette und kompakte Module an einem Fahrwerksrahmen befestigt werden und so Raum zwischen den Rädern schaffen, besser erfüllen. Ein weiterer Vorteil für Start-ups und Sonderfahrzeughersteller liegt in dem deutlich gesenkten Entwicklungs- und Integrationsaufwand für neue Fahrzeuge und Fahrzeugkonzepte. Auch für etablierte OEMs werden einbaufertige Corner-Module immer interessanter. Gründe hierfür sind zum einen Vorteile durch die vereinfachte und kostengünstigere Montage und weniger Kalibrieraufwand am Bandende. Zum anderen gewinnt man auch im Pkw mehr Platz, der für die Passagiere und die Batterie genutzen werden kann.
Die größten Märkte liegen heute und in der Zukunft außerhalb der EU. Für alle drei genannten LEV-Klassen wird aber auch in der EU bis 2035 ein zweistelliges Wachstum erwartet.
Ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem hochintegrierten Corner-Modul ist die Kombination eines Radnabenmotors und einer Radbremse zu einer Antriebs-Brems-Einheit. Diese kann in weiteren Schritten mit einer Federung und Dämpfung, sowie auf Wunsch mit einer Reifen/Felgen-Einheit zu einem vollständigen Corner-Modul ergänzt werden. Ein erster Prototyp solch eines Corner-Moduls wurde erstmals auf der CES 2023 in Las Vegas gezeigt und ist für LEVs mit bis zu 900 kg Zuladung, 9 m3 Ladevolumen und 150 km Reichweite ausgelegt. Eine Erweiterung des Leistungsspektrums auf Pkw-Anwendungen ist in Planung.
Schwerpunktthema: E-Mobility
In diesem Themenschwerpunkt „E-Mobility“ dreht sich alles um die Technologien in Elektrofahrzeugen, Hybriden und Ladesäulen: Von Halbleitern über Leistungselektronik bis E-Achse, von Batterie über Sicherheit bis Materialien und Leichtbau sowie Test und Infrastruktur. Hier erfahren Sie mehr.
Das neue Corner-Modul
Das über 100 Jahre alte Prinzip des elektrischen Radnabenantriebs (Lohner-Porsche von 1900) konnte sich bisher in der Masse nicht durchsetzen, weil vor allem die Leistungs- und Drehmomentdichte solcher Motoren die ungefederten Massen im Fahrzeug zu sehr hochtrieb. Auch der akustische Komfort ist selbst heute nicht immer befriedigend. Es gibt daher nur wenige Anbieter von Serienprodukten.
Bei dem neuen Corner-Module werden diese Hürden konstruktiv überwunden, sodass der Antrieb, der sich momentan in der Entwicklung befindet, das Potenzial hat, zunächst bei elektrischen Leichtfahrzeugen (LEV) für einen Durchbruch zu sorgen, der zeitnah vor allem in den asiatischen Märkten bevorsteht.
Funktionsumfang der Antriebs- und Bremseinheit
Das Corner-Modul ist eine einbaufertige Einheit, die den elektrischen Antrieb, eine hydraulische (nasse) oder elektromechanisch betätigte (trockene) By-wire-Bremse (oder Trommelbremse) sowie eine Luftfederung und Dämpfung integriert (Bild 1). Auch gelenkte Corner mit zusätzlicher Integration der Lenkmechanik sind in der Entwicklung. Die elektrische Maschine wirkt direkt auf das Rad und kommt ohne Untersetzungsgetriebe aus, sodass keine Getriebeverluste anfallen. Die komplette Fahrwerkselektronik inklusive des Inverters sowie die Software sind in einem Steuergerät integriert.
Das Corner-Modul basiert auf dem Prinzip der Gleichteileverwendung und verfügt nach dem Plug-and-Play-Prinzip über standardisierte Aufnahmepunkte zur Befestigung am Rahmen sowie einheitliche elektrische und elektronische Anschlüsse (Bild 1). Die einfache Montage kann innerhalb hocheffizienter Fertigungskonzepte auch für ein selbstfahrendes Chassis genutzt werden: Sobald die Module am Rahmen montiert sind, ist das Fahrzeug manövrierfähig.
Zum Funktionsumfang des Corner-Moduls gehören neben dem Vortrieb und der Energierückgewinnung (radindividuelle Rekuperation) auch die Verzögerung, sowie das Blending zwischen Reibbremse und generatorischem Motorbetrieb. Die elektromechanisch betätigte Bremse kann als Scheibenbremse ausgeführt sein, ist aber auch als elektrische Trommelbremse integrierbar (Bild 2). Die Einregelung der Bremskraft erfolgt radindividuell und wird von der Software im Modul übernommen. Das Softwarekonzept ist modular angelegt, sodass E/E-Architekturansätze mit oder ohne Zentralrechner und damit unterschiedlichem Verteilungsgrad gleichermaßen umsetzbar sind.
Zusätzlich ermöglicht das Corner-Modul eine Niveauregelung. Das Fahrwerksniveau kann vor dem Unterfahren und Aufladen eines Aufbau-/Funktionsmoduls wie z. B. eines Laderaummoduls abgesenkt und nach dem Aufladen wieder angehoben werden, um den Beladevorgang zu vereinfachen (Bild 3). Die Fahrwerksanhebung ermöglicht auch Bordsteinkanten mit kritischer Höhe zu überfahren, ohne aufzusetzen. Damit lassen sich der Unterboden und die Batterie effektiv vor teuren Beschädigungen schützen. Zusätzlich lässt sich durch ein Absenken bei höheren Geschwindigkeiten die Effizienz erhöhen. Für die Fahrhöhenregelungen und ggf. auch für eine dynamische Fahrwerkssteuerung sind die Winkel-IC-basierten Chassis-Positionssensoren von Continental aufgrund ihrer hohen Auflösung und Robustheit gut geeignet. Unter Verwendung von Fahrwerksbeschleunigungssensoren (BSZ) können weitere komfortrelevante Steuerungsfunktionen ermöglicht werden.
Auf Fahrzeugebene unterstützt das Corner-Modul außerdem Nachhaltigkeitsanforderungen. Die standardisierte Schnittstelle zum Fahrzeug erlaubt, dass die Module kontinuierlich weiterentwickelt und an neue Anforderungen angepasst werden können. Dies erhöht die effektive Nutzungsdauer des Fahrzeugs, da bei einem Modultausch eine verbesserte Variante verbaut werden kann. Zudem ermöglicht die Modulbauweise einen schnellen und einfachen Austausch und erhöht die Wartungsfreundlichkeit und Verfügbarkeit des Fahrzeugs.
Antriebstechnik: Direktantrieb am Rad
Für die Bereitstellung von Traktionskraft und zur Umwandlung kinetischer Energie während der Rekuperation benötigt das Corner-Modul einen Direktantrieb am Rad ohne Untersetzungsgetriebe. Ein Beispiel für einen solchen Motor ist eine Radialflux-Doppelrotormaschine. Durch das Radialflussprinzip sinkt das erforderliche Volumen der Permanentmagnete in den Rotoren, was die Masse teurer seltener Erden-Metalle gegenüber Axialflusskonstruktionen gleicher Leistung senkt. Ein optimiertes Wicklungskonzept des Stators ermöglicht einen hohen Nutfüllfaktor von 80 Prozent. Diese hohe Kupfermasse im Stator wird bei dem Konstruktionsprinzip im außenliegenden sowie im innenliegenden Rotor und damit zweimal genutzt, was zur Effizienz beiträgt.
Das Erreichen der sehr guten Motor-Performance wird unter anderem auch durch eine im Aufbau einfache Flüssigkeitskühlung unterstützt. Für das Wärmemanagement wird der neueste, im Ablauf-Kühlrohr minimal-invasiv vergossene, und damit sehr schnelle Digital-Temperatursensor von Continental eingesetzt.
Die neuartige Topologie des in die Motoreinheit integrierten SiC-Inverters ergibt reduzierte Oberschwingungsanteile, was die Effizienz des Systems weiter steigert. Prinzipbedingt hat der Antrieb den Vorteil, dass seine Kennlinienbereiche mit hohen Wirkungsgraden dicht am WLTP (Worldwide harmonized Light-duty vehicles Test Procedure) liegen (Bild 4). Gerade bei Niederlastbetriebspunkten hat die Doppelrotormaschine deutlich weniger Eisenverluste als andere Konstruktionen und erreicht eine hohe Drehmomentdichte von 60 Nm/kg.
Für ein Corner-Modul der Light-Electric-Vehicle-Klasse kann eine 48-V-Motor-Version mit 22 kW Leistung, 315 Nm Drehmoment und 13 kg Masse je Corner eingesetzt werden. Eine weitere Motorversion für leistungsstärkere Fahrzeuge mit Hochvoltspannung bietet bis zu 180 kW Spitzenleistung und 1800 Nm Spitzendrehmoment. Diese ist für einen Radnabenantrieb mit 31 kg Masse sehr leicht und besitzt eine hohe Leistungsdichte bei einer Effizienz von knapp 97 Prozent. Dennoch beträgt der Durchmesser des Antriebs nur 431 mm. Vergleichbare, in Serie befindliche Radnabenantriebe haben typischerweise rund 5 kg mehr Masse pro Corner. Die erforderlichen Motor-Positionssensoren liefern auch das Raddrehzahl-Signal. Mit einer induktiven Positionserfassung von metallischen Encodern wird so eine störungsunempfindliche hochgenaue Motor-Positionsmessung ermöglicht. Durch den insgesamt einfacheren Aufbau des Antriebs mit stark reduzierter Bauteilezahl und kostengünstigen Tiefziehteilen wird eine wirtschaftliche Produktion in der Großserie möglich, die eine Preisparität mit E-Achsen ermöglicht.
Reifen-gefederte Massen und Leistungsdichte
Bisherige Radnabenantriebe hatten als Schwachstelle eine relativ geringe Leistungsdichte, was zu verhältnismäßig großen und schweren Einheiten und damit zu hohen Reifen-gefederten Massen führte. Mit der Doppelrotorkonstruktion der elektrischen Maschine rückt der Radnabenantrieb dichter an die heute üblichen Reifen-gefederten Massen in konventionellen Fahrzeugen heran. Erreicht wird dies durch eine hohe Drehmomentdichte von 60 Nm/kg. Bedenkt man außerdem, dass Elektrofahrzeuge wegen der Batterie tendenziell schwerer sind als Modelle mit Verbrennungsmotor, so bleibt das Verhältnis zwischen Fahrzeugmasse und Reifen-gefederten Massen bei dem vorgestellten Prototyp nahezu gleich. Eine weitere Gewichtsreduzierung des gesamten Corners erscheint grundsätzlich möglich, wenn man die Auslegung der Reibbremse an das reduzierte Anforderungsprofil (z. B. vmax.) in LEV mit vielen Rekuperationsphasen anpasst.
Gelenktes Corner Modul
Grundsätzlich ist es eine konstruktive Herausforderung bei der Hochintegration von Antrieb, Bremse, Federung und Dämpfung in einem Modul, Bauraumkonflikte zu lösen. Diese Aufgabenstellung wird logischerweise noch anspruchsvoller, sobald zusätzlich die Lenkfunktion integriert wird. Je nach Fahrzeugkonzept stellt sich daher immer die Frage nach der Abwägung zwischen dem Aufwand der Integration und dem Nutzen. Für die Integration der Lenkung in das Corner-Modul spricht die Manövrier- und Wendefähigkeit eines LEV mit gelenkten Cornern. Da In-Wheel-Motoren prinzipbedingt keine Antriebswellen benötigen, können Lenkwinkel erreicht werden, die sonst durch die Antriebswellen der Achsantriebe verhindert werden.
Durch den Wegfall der Brems-Hochdruckleitungen zum Rad bei elektro-mechanischen Bremsen verbessern sich zusätzlich die Voraussetzungen für ein gelenktes Corner-Modul mit großem Lenkeinschlag von bis zu 90°. Ein seitliches Einparken durch Einlenken aller Räder unterstützt die Parkplatzsuche für Fahrer von Lieferfahrzeugen. Erste Untersuchungen zu einem gelenkten Corner haben zu einem Konzept mit bis zu 90°-Lenkwinkeleinschlag am Corner geführt, wobei der Drehpunkt nicht über dem Rad liegt. Dies ermöglicht auch Anwendungen im Pkw.
Vorteile eines Corner-Moduls
Bei dem hier vorgestellten Konzept eines Corner-Moduls für LEVs wurden alle Bauraumkonflikte zwischen den verschiedenen Fahrwerkskomponenten gelöst. Die Einheit umfasst einen hocheffizienten, leichten und kompakten Radnabenantrieb mit hoher Leistung, eine trockene, by-wire-Bremse und eine luftgefederte Radaufhängung, die eine Absenkung auf Bodenhöhe erlaubt. Da keine Getriebeverluste auftreten, ist der Antrieb effizienter als eine E-Achse.
Zusätzlich liegt die Motorkennlinie dicht am WLTP. Durch das kompakte Corner-Modul wird Platz zwischen den Rädern frei, der für das Transportvolumen und/oder eine größere Batterie sowie den Fahrgastraum nutzbar ist. Die große Wendigkeit solcher Fahrzeuge in Kombination mit ihrem im Vergleich zu Fahrzeuggröße und -gewicht sehr großem Laderaumvolumen und hoher Nutzlast macht sie für innerstädtische Transportaufgaben attraktiv.
Die Möglichkeit zum Austausch der gut zugänglichen Corner-Module macht sie zudem wartungsfreundlich. Das projektierte Laderaumvolumen, die Zuladung und Reichweite orientieren sich an den Fahrzeugklassen, L5e, L6e und L7e. Als einbaufertiges Modul vereinfacht das Corner-Modul die Fahrzeugmontage und senkt den Entwicklungsaufwand für neue Fahrzeuge. Für das autonome Fahren bedeutet die Verteilung der Antriebsleistung auf zwei oder vier Module eine Mehrfachredundanz, die sich im Fehlerfall für einen Notfallbetrieb mit eingeschränkter Leistung zur Rückkehr zu einem Servicepunkt (Limp Home / Mission Complete) nutzen lässt. Der Einsatz des elektrischen Corner-Moduls ist dabei nicht auf LEV begrenzt. Viele der genannten Vorteile lassen sich auch auf Pkw und Transporter übertragen. (neu)
Autor
Dr. Hans-Jörg Feigel ist Leiter Innovation and Advanced Systems im Geschäftsfeld Safety and Motion von Continental.