Laut ZVEI steht 2024 kein so rosiges Jahr bevor. Als Gründe nannte Dr. Günther Kegel, Vorsitzender des ZVEI, unter anderem die angespannte globale Situation. Davon betroffen sind auch immer mal wieder die Lieferketten. Vor allem in den Corona-Jahren hatte sich gezeigt, wir fragil diese zum Teil waren und immer noch sind. Um ein tieferes Verständnis für diese komplexen Dynamiken zu gewinnen, haben wir ein exklusives Interview mit Martin Bilstein, dem Regional Vice President DACH bei Kinaxis, geführt. Mit über 15 Jahren Erfahrung im Bereich der Supply-Chain-Management-Software bietet Bilstein Einblicke in die Veränderungen, Herausforderungen und Lösungen, die Unternehmen heute in Angriff nehmen müssen, um in einem unbeständigen Marktumfeld erfolgreich zu sein. Von der steigenden Bedeutung künstlicher Intelligenz bis hin zu strategischen Ansätzen für eine verbesserte Lieferkettenresilienz.
Herr Bilstein, wie hat sich das Bewusstsein für Lieferketten und deren Anfälligkeit durch die Pandemie verändert?
Die Pandemie war nur ein extremes Beispiel von einer Entwicklung, die wir in unseren Lieferketten schon länger beobachten: Die Anzahl an Krisen in der globalen Wirtschaft nehmen immer weiter zu. Allein in den letzten Monaten zeigte sich wieder mehrfach, wie schwierig es sein kann, Waren erfolgreich von A nach B zu bringen. Aktuelle Herausforderungen sind zum Beispiel die Angriffe der Huthi-Rebellen im Roten Meer oder der niedrige Wasserstand des Panamakanals.
Dadurch wird es immer schwieriger, Lieferketten zu überwachen und auf Störungen richtig zu reagieren. Dabei hat die Pandemie nicht nur Verbrauchern gezeigt, wie verwundbar unsere perfekt orchestrierten Lieferketten sind, sondern vor allem auch Unternehmen wurden von ihren Abhängigkeiten massiv getroffen – in Deutschland zum Beispiel besonders die Automobilindustrie und ihre Abhängigkeit von Halbleitern. Und das hat das Bewusstsein massiv beeinflusst, denn egal ob Konzern oder Familienbetrieb, kein Unternehmenslenker möchte dafür verantwortlich sein, dass Mitarbeiter wegen fehlender Teile in Kurzarbeit müssen und Umsatzziele deswegen nicht erreicht werden können.
Über den Interviewpartner
Martin Bilstein verantwortet als Regional Vice President den DACH-Markt bei Kinaxis. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung im Aufbau und der Leitung von Geschäfts- und Vertriebsorganisationen in kleinen, mittleren und großen Software-Unternehmen – zuletzt bei Syncron, Infor und IBM. Bei seiner Arbeit legt er den Fokus vor allem auf operative Exzellenz, Kundenerfolg, Wachstum und Unternehmenskultur.
Gibt es Besonderheiten beim Thema Lieferkette, die Ihnen in der Zusammenarbeit mit Elektronikunternehmen aufgefallen sind?
Die Lieferketten in der Elektronikindustrie gehören zu der Königsklasse. Die Nachfrage nach Halbleitern ist nicht nur groß, sondern sie schwankt auch stärker als in anderen Branchen. Und das Angebot lässt sich nur sehr langsam skalieren. Es dauert Jahre und benötigt exorbitante Investments, um eine neue Halbleiterproduktion aufzubauen. Gleichzeitig wird die Industrie bei den leistungsstärkeren Chips von wenigen Lieferanten dominiert – wie die 3-nm-Fertigung von TSMC oder ganz aktuell die KI-Chips von Nvidia. Doch auch die Planung ist anspruchsvoll, denn die Komponenten für neue Produkte müssen häufig schon früh in der Entwicklung festgelegt werden, die häufig schon Monate oder gar Jahre vor der Produktion startet. Das erhöht die ohnehin schon hohe Komplexität durch die langen und vielschichtigen Stücklisten einzelner Produkte noch weiter.
Warum fällt es Unternehmen schwer, schnell auf Herausforderungen in der Lieferkette zu reagieren?
Wir haben kürzlich für eine Studie die deutsche Fertigungsindustrie zu ihren Lieferketten-Management befragt. Und die Ergebnisse zeigen, dass bei einer Lieferkettenstörung bereits das Sammeln aller Informationen für ein Drittel mehrere Stunden und für ein Fünftel sogar Tage dauern kann. Den meisten Unternehmen fehlt zudem die Möglichkeit, sofort oder präventiv alternative Szenarien für die gesamte Lieferkette zu entwickeln, um schnell die richtigen Gegenmaßnahmen einzuleiten. Doch neben der reinen Sichtbarkeit, wann und wo eine Störung aufgetreten ist, ist es noch wichtiger zu verstehen, welche tatsächlichen Auswirkungen diese Störungen auf ihr Geschäft haben. Genau diese Art von Transparenz, die über die Visibilität hinausgeht, ist entscheidend. Denn jede verstrichene Stunde reduziert die Anzahl an Alternativen.
Warum brauchen Unternehmen dafür so lange?
Um auf Krisen schnell reagieren zu können, müssen Unternehmen robuste Prozesse einführen. Aktuell wird immer noch sehr viel in einzelnen Silos gearbeitet. Planungsabteilungen wie die Bedarfsplanung, Produktionsplanung und Bestandsplanung arbeiten nicht übergreifend zusammen, nicht an einem Ziel und nicht mit der gleichen Datenlage. Dadurch wird es schwieriger alternative Szenarien für Störfälle entlang der ganzen Lieferkette zu entwickeln aus denen man passende Gegenmaßnahmen ableiten kann. Abhilfe schafft hier die verschränkte Planung, die jedes Element in der Supply Chain mit allen anderen Elementen Ende-zu-Ende verknüpft. Eine Änderung in einem Teil der Kette löst so eine entsprechende Reaktion in der restlichen Kette aus – und erlaubt damit den aktuellen Stand sowie die Folgen von Veränderungen in Echtzeit zu überblicken. Darüber hinaus ist es wichtig für Unternehmen, mehrere Szenarien für die gesamte Lieferkette bereits im Vorfeld zu entwickeln, um diese dann je nach Bedarf schnell anwenden zu können.
Welche Rolle spielt die Unternehmensgröße?
Größere Unternehmen sind üblicherweise besser aufgestellt – das zeigt nicht nur meine Erfahrung, sondern bestätigt auch unsere Umfrage. 46 Prozent der befragten Unternehmen mit weniger als 1.000 Mitarbeitern benötigen mehrere Tage oder länger, um die Auswirkungen einer Unterbrechung der Lieferkette auf das gesamte Unternehmen zu verstehen. Bei den Unternehmen mit mehr als 10.000 Mitarbeitern brauchen nur 17 Prozent mehrere Tage oder länger. Klar ist hier: Die Anzahl der Störungen steigt kontinuierlich mit der Unternehmensgröße. Daher kann ich nur raten, dass auch kleinere Unternehmen Investitionen in das Lieferkettenmanagement nicht unnötig lange rauszögern.
Wie kann KI bei der Stabilisierung von Lieferketten beitragen?
KI wird ein wichtiges Instrument, um die Risiken zu reduzieren und intelligentere Lieferketten zu schaffen. Die Technologie hilft Supply-Chain-Managern die betriebliche Effizienz zu verbessern, Kosten zu senken und letztlich auch den Umsatz zu steigern und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen.
Ganz konkret kann KI zum Beispiel für eine verbesserte Bedarfsprognose eingesetzt werden – durch den Einsatz historischer Daten kombiniert mit Markttrends und anderen Faktoren wie der aktuellen Stimmungslage in den sozialen Medien, den Wetterverhältnissen oder Veränderungen im Verbraucherverhalten. Dabei können auch lokale und nationale Ereignisse wie die Fußball-Europameisterschaft berücksichtigt werden, um die künftige Nachfrage für bestimmte Standorte genauer vorhersagen zu können. Das hilft Unternehmen letztlich, ihre Lagerbestände zu optimieren und gleichzeitig Fehlbestände zu vermeiden.
Wir setzen KI schon seit Jahren in unseren Lösungen ein, weil sie die Möglichkeiten der Lieferkettenverwaltung grundlegend erweitert. Damit trägt sie sowohl zu unserem Geschäftserfolg bei als auch zum Mehrwert, den wir unseren Kunden bieten. Ich verstehe daher die Begeisterung für KI, gleichzeitig ist es aber auch kein Wundermittel und kann nicht alle Probleme lösen. Stattdessen ist KI eher ein nützliches Werkzeug, das bereits gut funktionierende Prozesse weiter verbessert.
Ich verstehe die Begeisterung für KI, gleichzeitig ist es aber auch kein Wundermittel und kann nicht alle Probleme lösen.
Sind solche KI-Lösungen bereits am Markt erhältlich?
Egal ob etabliertes Unternehmen oder junges Start-up – ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Unternehmen in der Supply-Chain-Branche gibt, die Künstliche Intelligenz noch nicht in ihr Produkt integriert haben.
KI ist durch die Masse an Daten und schnelle Kalkulation unzähliger Szenarien wie gemacht für unsere Branche – daher spielt sie hier auch schon lange Zeit eine entscheidende Rolle. Die Fähigkeit und das Potenzial von KI, Lieferketten zu verändern, waren stets mit der Gründung unseres Unternehmens verflochten, bei der die drei Gründer die Technologie nutzten, um den mühsamen Prozess der Materialbedarfsplanungsprozess (MRP) zu automatisieren. Ein Prozess, auf den Unternehmen bei ihrer Lieferkettenplanung angewiesen waren, gleichzeitig aber von der Tatsache aufgehalten wurden, dass der MRP-Prozess zwischen 30 und 50 Stunden dauern konnte. Das Ergebnis unserer Versuche: ein Automatisierungsansatz, der den MRP-Prozess auf nur fünf Minuten verkürzte. Die Zeit, die durch den Ansatz eingespart wird, erlaubt Supply-Chain-Planern, die Effizienz ihrer Abläufe zu steigern und ermöglicht ihnen eine bessere Entscheidungsfindung und Szenarioanalyse, um ihre Lieferkette langfristig zu optimieren.
Wie sind die Erfahrungen mit der Lösung von Kinaxis?
Viele Unternehmen müssen eine Produktverfügbarkeit sicherstellen, die dem Bedarf der Verbraucher entspricht. Daher sind die Produktionsvorlaufzeiten eine wichtige Komponente. Unser Kunde Casio stand selbst nach der Einführung eines Systems zur Planung der Lieferkette vor der Herausforderung seine Produktionslaufzeiten und seinen Bestand anzupassen. Mit RapidResponse konnten die drei Stunden, die das vorherige System für zahlreiche Berechnungen brauchte, auf nur 50 Sekunden reduziert werden. Das eröffnet eine Transparenz über die gesamte Lieferkette und erlaubt statt der Berechnung weniger Optionen, plötzlich die Prüfung und Bewertung unzähliger Szenarien, um so das Unternehmen beim Entscheidungsprozess zu unterstützen und die bestmögliche Option zu identifizieren.
Darüber hinaus zeigte sich in einer Untersuchung, dass Unternehmen, die Kinaxis RapidResponse einsetzen, in einer ganzen Reihe von Finanzkennzahlen sogar besser dastehen als Unternehmen, die dies nicht tun. So, verglich Morgan Swink, ein Professor an der Texas Christian University, die Quartalsabschlüsse von 48 börsennotierten amerikanischen Unternehmen, die Kinaxis für ihre Lieferplanung nutzen – mit einer Kontrollgruppe von 644 Firmen, die in den 12 Monaten vor der Pandemie ähnliche Finanzdaten aufwiesen. Bei Betrachtung der Leistung nach der Pandemie zeigten unsere Kunden bei allen Kennzahlen finanzielle Verbesserungen im Vergleich zur Kontrollgruppe.
Das Ergebnis: In den drei Jahren seit Beginn der Pandemie konnten sie ihren Umsatz um 9,4 Prozent mehr steigern als der Branchendurchschnitt der Kontrollgruppe. Dabei stiegen die durchschnittlichen Lagerbestände in der Branche mehr als zweimal schneller als Unternehmen, die Kinaxis verwendeten.
Welches sind die Grundsätze, die Unternehmen bei der Einführung von KI in ihren Lieferketten helfen sollen, damit sie die Technologie erfolgreich einsetzen können?
Das sind vor allem fünf Grundsätze, die Unternehmen beherzigen sollten:
- KI sollte den Menschen ergänzen, nicht ersetzen: Oft sind wir so sehr davon geblendet, was KI alles leisten kann, dass wir vergessen, was Maschinen nicht können: Kontext, Zusammenarbeit und Gewissen – der entscheidende menschliche Faktor. KI kann Menschen unterstützen, aber nicht die Fähigkeit ersetzen, Entscheidungen zu treffen, bei denen die drei Punkte berücksichtigt werden müssen.
- Die fachliche Verbindung von KI, Heuristik und Optimierung KI ist nicht die Lösung für alles – und für einige der größten Herausforderungen der Lieferkette ist es häufig eine Frage des richtigen Werkzeugs, des richtigen Problems und des richtigen Timings, und zu diesem Zweck bieten sowohl die heuristische Methode als auch die klassische Optimierung eine wertvolle Flexibilität. Daher ist es empfehlenswert, die Stärken jedes Ansatzes smart zu kombinieren, um so ein Gleichgewicht aus Geschwindigkeit und Präzision zu erreichen.
- Verschränkung durch KI verstärken: KI wird die Lieferkettenplanung nicht revolutionieren, wenn die Grundtechnik nicht passt. Daher ist es wichtig, dass das Konzept der Verschränkung in dem KI-Workflow integriert. Nur dann können alle Informationen aus dem gesamten Netzwerk einer Lieferkette berücksichtigt werden. Damit sind die Daten aufeinander abgestimmt – und eine Änderung in einem Teil der Kette löst dann eine entsprechende Reaktion in der restlichen Kette aus.
- Die Macht der KI muss demokratisiert werden: KI muss aus den Umgebungen der Datenexperten befreit werden, damit ihr volles Potenzial für Lieferketten ausgeschöpft werden kann. Lieferkettenmanager sollten KI selbst einsetzen können, um Lieferketten zu Verbessern und praxisgetreue Lösungen zu schaffen. Daher sollten die besten Lösungen nur ein Verständnis der Unternehmensdaten und des Geschäfts erfordern, nicht aber technische Kenntnisse in KI oder Data Science.
- Erklärbarkeit ist entscheidend für die Einführung von KI: Ein weiterer Nebeneffekt von KI ist, dass sich die Grundlage für Entscheidungen nicht immer ergründen lässt. Das wird spätestens dann ein Problem, wenn Unternehmen für Fehlprognosen geradestehen müssen, an denen KI beteiligt war. Für Lieferkettenverantwortliche ist es daher essenziell, die Auswirkungen von KI-getriebenen Empfehlungen auf ihr gesamtes Netzwerk zu verstehen und entsprechende Handlungsoptionen bewerten zu können. Ist das nicht der Fall, werden sie einer KI-Integration immer kritisch gegenüberstehen. Damit Menschen also bereit sind, den Wert von KI-gestützten Erkenntnissen anzunehmen, müssen zwei Dinge gegeben sein: Wir müssen sie mit den Informationen ausstatten, die sie benötigen, um ihre Entscheidungen zu erklären, und diese Informationen müssen in Lösungen eingebettet sein, die sie verstehen.
Der Autor: Dr. Martin Large
Aus dem Schoß einer Lehrerfamilie entsprungen (Vater, Großvater, Bruder und Onkel), war es Martin Large schon immer ein Anliegen, Wissen an andere aufzubereiten und zu vermitteln. Ob in der Schule oder im (Biologie)-Studium, er versuchte immer, seine Mitmenschen mitzunehmen und ihr Leben angenehmer zu gestalten. Diese Leidenschaft kann er nun als Redakteur ausleben. Zudem kümmert er sich um die Themen SEO und alles was dazu gehört bei all-electronics.de.