Große Koalition in der Pflicht: Zwischen Reformstau und Standortdebatte ringen Politik und Wirtschaft um die richtige Strategie für Deutschlands industrielle Zukunft.

Große Koalition in der Pflicht: Zwischen Reformstau und Standortdebatte ringen Politik und Wirtschaft um die richtige Strategie für Deutschlands industrielle Zukunft. Wir haben bei den wichtigsten Verbänden nachgefragt. (Bild: dietwalther @ AdobeStock)

Nach intensiven Verhandlungen ist der Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/CSU fast unterzeichnet und die neue Bundesregierung steht vor der gewaltigen Aufgabe, den Industriestandort Deutschland zukunftsfähig zu gestalten. Die im Vorfeld formulierten Erwartungen und Forderungen zahlreicher Branchenverbände zeigen deutlich, was auf dem Spiel steht: Eine mutige Wirtschaftspolitik, die Innovationskraft stärkt, Bürokratie abbaut und massive Investitionen in Digitalisierung, Infrastruktur und Zukunftstechnologien sicherstellt, wird von allen Seiten eingefordert. Ob das nun verabschiedete Finanzpaket – das sogenannte Sondervermögen über 500 Milliarden Euro – tatsächlich zum erhofften Impuls werden kann, hängt maßgeblich davon ab, wie klar und entschlossen die neue Regierung die Mittel einsetzt und zugleich strukturelle Hemmnisse wie Fachkräftemangel, hohe Energiepreise und komplexe Bürokratie in Angriff nimmt.

Zahlreiche Branchenverbände wie etwa der VDMA, BDI oder der ZVEI  haben in den vergangenen Wochen ihre Erwartungen und konkreten Forderungen formuliert. Gerade in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten gibt es viel zu tun für die kommende Regierung. Wir haben deshalb bei den wichtigsten Verbänden der (Elektronik-)Industrie nachgefragt, wass die Industrie und der Standort Deutschland braucht, um wieder auf Vordermann zu kommen und in der Weltspitze mitspielen zu können. Was genau die Verbände zu den bestimmten Themen zu sagen haben, haben wir hier zusammengefasst.

Einhelligkeit herrscht dabei in vielen Punkten: Es braucht klare Rahmenbedingungen, weniger Bürokratie und massive Investitionen in Zukunftsfelder, um den Industriestandort Deutschland nachhaltig zu stärken und international wettbewerbsfähig zu halten. Die Verbände erwarten nichts weniger als einen entschlossenen „Aufbruch“, damit Deutschland wirtschaftlich wieder Tempo aufnimmt, international wettbewerbsfähig bleibt und die anstehenden Transformationen erfolgreich meistert.

Zitat

Damit die Mittel ihre volle Wirkung entfalten, müssen sie in zukunftsgerichtete Investitionen fließen – in leistungsfähige Stromnetze, strategische Schlüsseltechnologien und eine moderne digitale Infrastruktur.

ZVEI

Wirtschaft mahnt: Reformen und Investitionen jetzt umsetzen

Die Verbände betonen unisono die Notwendigkeit eines Aufbruchs. "Wir erwarten von der künftigen Bundesregierung, dass sie klare und verlässliche Rahmenbedingungen für Innovation, Forschung und industriellen Wandel schafft", so die klare Botschaft des AMA-Verbandes für Sensorik und Messtechnik. Für die mittelständischen Technologieunternehmen, die viele AMA-Mitglieder repräsentieren, sei es entscheidend, dass Investitionen in Zukunftstechnologien wie Sensorik, Digitalisierung und Automatisierung nicht nur angekündigt, sondern auch nachhaltig umgesetzt werden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht in der Einigung auf ein Finanzpaket ein wichtiges Signal, um die gefährliche Abwärtsspirale aus ausbleibenden Investitionen und Wachstumsschwäche zu stoppen. "Ernst der Lage ist erkannt", konstatiert BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner. Allerdings dürfe zusätzliches Geld allein maes nicht richten; zentrale Bedeutung hätten begleitende Strukturreformen und ein effizienter Mitteleinsatz.

Zitat

Wir erwarten von der künftigen Bundesregierung, dass sie klare und verlässliche Rahmenbedingungen für Innovation, Forschung und industriellen Wandel schafft.

AMA-Fachverband

Bürokratiekosten senken, Unternehmen entlasten

Ein zentrales Anliegen vieler Verbände ist der dringende Abbau bürokratischer Hürden. Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bräuchten einfache und praxisnahe Rahmenbedingungen, um ihre Innovationskraft entfalten zu können, betont der AMA. Der BDI fordert, die Bürokratiekosten in den nächsten vier Jahren um 25 Prozent zu senken, während der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sogar von einer "tiefgreifenden Staatsreform" spricht, um die industrielle Wettbewerbsfähigkeit wieder zu steigern. VDMA-Präsident Bertram Kawlath kritisiert, dass der Reformeifer in den Koalitionsverhandlungen bereits wieder verblasse und fordert niedrigere Unternehmenssteuern, eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie einen drastischen Abbau der Bürokratie durch Vereinfachung und Reduzierung der Berichtspflichten. Eine Studie der IMPULS-Stiftung des VDMA habe gezeigt, dass die Bürokratiekosten kleine Unternehmen mit bis zu 6,3 Prozent des Umsatzes belasten – ein Wert, der über der Bruttoumsatzrendite liegt. Auch der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) sieht die Reduzierung bürokratischer Anforderungen ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda. Allein im Jahr 2023 hätten diese die Unternehmen der Elektro- und Digitalindustrie mit sechs Milliarden Euro bzw. drei Prozent des Umsatzes belastet. Der Fachverband Elektronikdesign und -fertigung e.V. (FED) schließt sich dem an und fordert ebenfalls den Abbau der "viel zu umfangreichen Bürokratie", damit Unternehmen wieder "atmen" und sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren könnten.

Industrie fordert klare Innovationsstrategie und gezielte Förderung

Ein weiterer Schwerpunkt der Forderungen liegt auf der Stärkung von Forschung, Entwicklung und Innovation. Der AMA wünscht sich kurzfristig, dass Förderprogramme treffsicher bei den Unternehmen ankommen, insbesondere bei mittelständischen Anbietern mit hoher technologischer Kompetenz. Langfristig brauche es eine konsistente Technologiepolitik und Planungssicherheit. Auch der FED (Fachverband Elektronikdesign und -fertigung) betont, dass Deutschland langfristig seine Investitionen in Forschung und Entwicklung steigern müsse. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) fordert eine faktenbasierte und technologieoffene Politik, die Deutschland als Technik- und Innovationsstandort international wettbewerbsfähig hält. Kurzfristig brauche es vor allem langfristige Perspektive und Strategie für Industriepolitik und Innovationsförderung, beginnend mit der Definition, in welchen Technologien Deutschland und Europa künftig führend sein wollen.

Zitat

Wir brauchen daher ein echtes Standort-Upgrade – und zwar schnell.

VDMA

Bitkom fordert Digitalministerium und mutige Digitalpolitik

Die Digitalisierung nimmt in den Forderungen der Verbände eine zentrale Rolle ein. Der Digitalverband Bitkom fordert angesichts der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD die Einrichtung eines echten Digitalministeriums, das digitalpolitische Zuständigkeiten bündelt und die Digitalpolitik effektiv vorantreibt. Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst betont, dass Digitalpolitik in der kommenden Legislaturperiode zu einem Schwerpunkt werden müsse, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, die Sicherheit im Cyberraum zu verbessern, den Staat zu modernisieren und Deutschland zu einem wettbewerbsfähigen und digital souveränen Land zu machen. Laut einer Bitkom-Befragung sprechen sich 71 Prozent der Deutschen für ein eigenständiges Digitalministerium aus. Kurzfristig schlägt der Bitkom die generelle Abschaffung der Schriftformerfordernisse im deutschen Recht, einen Regulierungsstopp, die Deklaration der digitalen Infrastruktur als "überragendes öffentliches Interesse" zur Beschleunigung des Glasfaser- und Mobilfunkausbaus, die Förderung des Ausbaus Deutschlands zum europäischen KI-Hotspot, Superabschreibungen und Zuschüsse für Digitalinvestitionen sowie die Schaffung einer Bundeszentrale für digitale Bildung vor.

Mit Blick auf das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen fordert der Bitkom einen "Digitalpakt Deutschland" mit einem Umfang von 100 Milliarden Euro, um Deutschland innerhalb der kommenden fünf Jahre zu einem in zentralen Bereichen digital souveränen Land zu machen. Dieser Digitalpakt solle Investitionen in digitale Schlüsseltechnologien wie KI und Quantum Computing anstoßen, die digitale Transformation der deutschen Wirtschaft fördern und die Digitalisierung der Verwaltung massiv beschleunigen. Der Bitkom schlägt vor, den Digitalpakt weit überwiegend aus Bundesmitteln des Sondervermögens zu finanzieren und ihn mit messbaren Zielen und einem ambitionierten Zeitplan zu versehen, wobei die Steuerung beim künftigen Digitalministerium liegen solle. Konkret sieht der "Digitalpakt Deutschland" Investitionen in vier Feldern vor:

  • Digitale Transformation der Wirtschaft (35 Mrd. Euro), inklusive Sonderabschreibungen auf digitale Güter und Förderungen für digitale Verkehrsinfrastruktur, digitale Krankenhäuser und KMU
  • Aufbau eines Deutschland Stacks durch Förderung von Schlüsseltechnologien und Infrastrukturen (50 Mrd. Euro), insbesondere Ausbau der Chip-Fertigung, Förderung von Chip-Design und Innovation, Aufbau einer souveränen Quanten-Rechenzentren-Infrastruktur, Förderung von KI und souveränen Cloud-Technologien.
  • Verwaltungsdigitalisierung (10 Mrd. Euro), inklusive Modernisierung der Registerlandschaft und Aufbau einer modernen Cloud-Infrastruktur für Bund, Länder und Kommunen.
  • Digitale Bildung (5 Mrd. Euro), durch die Aufsetzung eines Qualifizierungsfonds für Lehrpersonal.

Sondervermögen: Verbände fordern zielgerichtete Zukunftsinvestitionen

Der AMA-Verband sieht im Finanzpaket grundsätzlich Chancen für die Sensorik- und Messtechnikbranche, etwa im Bereich Energie, Digitalisierung und Infrastruktur. Entscheidend sei jedoch, wie konkret die Mittel eingesetzt werden und ob technologieorientierte Mittelständler gezielt eingebunden werden. Eine besondere Herausforderung bestehe darin, dass Sensorik und Messtechnik in der öffentlichen Wahrnehmung oft unterrepräsentiert seien, obwohl sie in zahlreichen Schlüsselanwendungen eine tragende Rolle spielten. Vor diesem Hintergrund wäre es aus AMA-Sicht sinnvoll, wenn diese Querschnittstechnologien auch bei der Umsetzung des Finanzpakets angemessen berücksichtigt würden.

Der BDI betont, dass das Sondervermögen mehr als ein Konjunkturpaket sei und der Wirtschaft die Möglichkeit gebe, über zehn Jahre hinweg überfällige Zukunftsinvestitionen nachzuholen, was in unsicheren Zeiten Verlässlichkeit schaffe und auf Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit einzahle. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage in Europa sei es zudem dringend notwendig, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen.

Der VDI begrüßt das geplante Sondervermögen für bessere Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro, sieht dadurch aber auch einen erhöhten Bedarf an Ingenieure. Der Fachkräftemangel, der sich tendenziell verstärke, gefährde potenziell die Umsetzung des Investitionspakets. Ohne ein Umsteuern im Bereich der technischen Bildung, eine bessere digitale Ausstattung der Schulen und Anreize für die Ingenieurausbildung werde das Sondervermögen nicht sinnvoll ausgegeben werden können.

Der ZVEI sieht das Sondervermögen als Chance, die Infrastruktur gezielt für Elektrifizierung und Digitalisierung zu stärken und damit sowohl effizienten Klimaschutz zu ermöglichen als auch den Industriestandort Deutschland wieder zukunftsfähig aufzustellen. Damit die Mittel ihre volle Wirkung entfalten, müssten sie in zukunftsgerichtete Investitionen fließen – in leistungsfähige Stromnetze, strategische Schlüsseltechnologien und eine moderne digitale Infrastruktur, begleitet von einem Abbau regulatorischer Hürden.

Industrie legt To-do-Liste vor: Reformen, Investitionen und Bildung

Die dringendsten "To-dos" für die neue Bundesregierung aus Sicht der Verbände lassen eine klare Priorisierung erkennen:

  • AMA
    • Forschung und Entwicklung gezielt fördern (insbesondere bei mittelständischen Unternehmen).
    • Planungssicherheit schaffen (durch klare Förderlinien, vereinfachte Verfahren und verlässliche Partnerschaften).
    • Fachkräfte ausbilden und sichern, Technologieakzeptanz stärken (durch MINT-Bildung und positive Kommunikation).
  • FED
    • Bürokratie abbauen und Investitionsbedingungen verbessern.
    • Energiepreise senken und Versorgungssicherheit gewährleisten.
    • Fachkräftemangel bekämpfen und Innovationsförderung stärken.
  • VDI
    • Nachhaltige Energie- und Mobilitätswende voranbringen (sichere, bezahlbare und klimafreundliche Energieversorgung, technologieoffene Strategie, moderne Verkehrskonzepte).
    • Digitale und technologische Innovationskraft stärken (Investitionen in KI, Forschungsförderung, Abbau regulatorischer Hürden, Förderung der Circular Economy).
    • Fachkräfte sichern und technische Bildung ausbauen (Stärkung der technischen Bildung über alle Schulstufen, lebenslanges Lernen, Anreize zur Fachkräftezuwanderung).
  • ZVEI:
    • Weniger Bürokratie, mehr Freiheit für Unternehmergeist und Raum für Innovationen.
    • Reform der Unternehmensbesteuerung sowie bessere Abschreibungsbedingungen.
    • Investitionen in Elektrifizierung, Digitalisierung und Automatisierung.

Auch andere Verbände wie der Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA) betonen die Notwendigkeit einer stabilen Regierung, die den Standort und somit die Volkswirtschaft stärkt und die Zukunft von Arbeit und Beschäftigung sichert. Die hohe Energiepreise, die überbordende Bürokratie sowie die Steuern und Abgaben in aktueller Form seien für die Unternehmen und insbesondere den Mittelstand nicht mehr tragbar. Der VDMA fordert neben der Staatsreform auch eine "Wirtschaftswende" und kritisiert, dass dem Sondierungsergebnis von Union und SPD ein Gesamtkonzept und eine klare Richtung dafür fehlten. Es komme nun darauf an, im Rahmen der Koalitionsverhandlungen ein solches Konzept zu entwickeln, Strukturreformen anzustoßen und zu klären, wie die zusätzliche Schuldenlast wieder zurückgezahlt werde. Der Maschinenbau unterstützt zudem die Pläne für höhere Verteidigungsausgaben, betont aber die Notwendigkeit steigender Stückzahlen, sinkender Kosten und gestraffter Beschaffungsprozesse in der europäischen Rüstungsproduktion.

Transformation braucht mehr als Geld

Die Aussagen der Verbände zeigen deutlich: Die deutsche Wirtschaft steht vor enormen Herausforderungen. Die neue Bundesregierung steht vor der dringenden Aufgabe, entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts zu sichern und die notwendigen Transformationen in den Bereichen Digitalisierung, Energie und Mobilität voranzutreiben. Das Sondervermögen bietet hierbei eine wichtige finanzielle Grundlage, doch sein Erfolg wird maßgeblich davon abhängen, ob die Mittel zielgerichtet und effizient eingesetzt werden und ob es gelingt, gleichzeitig die strukturellen Hemmnisse wie Bürokratie und Fachkräftemangel zu überwinden. Die Wirtschaft erwartet nicht weniger als ein umfassendes "Standort-Upgrade" – und zwar schnell.

Der Autor: Martin Probst

Martin Probst
(Bild: Hüthig)

Zunächst mit einer Ausbildung zum Bankkaufmann in eine ganz andere Richtung gestartet, fand Martin Probst aber doch noch zum Fachjournalismus. Aus dem Motto „Irgendwas mit Medien“ entwickelte sich nach ein wenig Praxiserfahrungen während des Medienmanagement-Studiums schnell das Ziel in den Journalismus einzusteigen. Gepaart mit einer Affinität zu Internet und Internetkultur sowie einem Faible für Technik und Elektronik war der Schritt in den Fachjournalismus – sowohl Online als auch Print – ein leichter. Neben der Elektronik auch an Wirtschafts- und Finanzthemen sowie dem Zusammenspiel derer interessiert – manche Sachen wird man glücklicherweise nicht so einfach los. Ansonsten ist an ihn noch ein kleiner Geek verloren gegangen, denn alles was irgendwie mit Gaming, PCs, eSports, Comics, (Science)-Fiction etc. zu tun hat, ist bei ihm gut aufgehoben.

Weitere Artikel von Martin Probst.

Sie möchten gerne weiterlesen?