Schaut man sich im Alltag um, scheint das Thema Corona kaum noch eine Rolle zu spielen. Anders sieht es mit einem Problem aus, das die Pandemie mit sich brachte: die Störungen der Lieferketten. Viel wurde über den Halbleitermangel z.B. im Bereich Automotive geschrieben. Vergessen schien das Thema – zumindest erweckte es den Anschein. Eine Studie des Bitkom zeichnet nun allerdings ein düsteres Bild: 9 von 10 Unternehmen (89 Prozent), die in diesem Jahr Halbleiterbauteile oder -komponenten eingekauft haben, hatten Schwierigkeiten bei der Beschaffung. Das sind noch einmal 8 Prozentpunkte mehr als 2021, als 81 Prozent von entsprechenden Problemen berichteten.
Die Schwierigkeiten sind vielfältig: 97 Prozent der betroffenen Unternehmen haben mit Lieferverzögerungen zu kämpfen, 93 Prozent mit Preiserhöhungen. Bei 89 Prozent sind bestimmte Komponenten teilweise nicht verfügbar, bei 88 Prozent wurden die Liefermengen reduziert. Rund 5 Monate beträgt derzeit die durchschnittliche Lieferverzögerung für Halbleiterbauelemente bzw. -komponenten in Deutschland. Damit bleibt die Verzögerung auf hohem Niveau: Vor zwei Jahren waren es noch 6,5 Monate.
Hintergrund der Bitkom-Studie zu den Lieferengpässen bei Chips
Im Rahmen der repräsentativen Studie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom wurden 404 Unternehmen ab 20 Mitarbeitern aus dem verarbeitenden Gewerbe und den ITK-Dienstleistungen befragt; also Branchen, in denen intensiv mit Halbleitern gearbeitet wird. 86 Prozent dieser Unternehmen geben an, Halbleiterbauelemente oder -komponenten zu verwenden. Für die allermeisten dieser Unternehmen sind diese für das eigene Geschäft unverzichtbar (83 Prozent). 85 Prozent haben im aktuellen Jahr 2023 bereits Halbleiter gekauft oder werden es noch tun. 39 Prozent dieser Unternehmen wissen allerdings nicht, woher diese Halbleiter überhaupt kommen.
Wie schlimm werden die Probleme bei Halbleitern 2024?
Zwei Drittel (68 Prozent) dieser Unternehmen rechnen sogar mit einer Zunahme der Lieferverzögerungen bis 2024 - 41 Prozent erwarten eine deutliche Zunahme und 24 Prozent eine leichte Zunahme. Jedes fünfte Unternehmen (19 Prozent) geht von einer Beibehaltung des Status quo aus. Jedes zehnte Unternehmen (10 Prozent) geht hingegen davon aus, dass sich die Lieferverzögerungen im kommenden Jahr verringern werden. „Ohne Chips läuft in der deutschen Wirtschaft nichts. Halbleiter sind die Basistechnologie der digitalen Wirtschaft“, sagt Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst. „Deutschland und Europa müssen einseitige Abhängigkeiten bei Halbleitern beenden.“
Woher beziehen die Unternehmen ihre Halbleiter?
Als Produktionsstandort dominiert Asien mit insgesamt 59 Prozent. Dabei bezieht jedes vierte Unternehmen (25 Prozent) seine Halbleiterbauelemente aus China und 17 Prozent aus Taiwan. Auch Südkorea (10 Prozent) und Singapur (7 Prozent) sind wichtige Halbleiterlieferanten. Demgegenüber stehen die USA, aus denen 21 Prozent der deutschen Abnehmer ihre Halbleiterbauelemente und -komponenten beziehen. 6 Prozent kaufen in Israel ein und jeder zwanzigste Abnehmer (5 Prozent) gibt Deutschland als Produktionsland an. Die Einkaufs-Zahlen unterscheiden sich ein wenig zu denen, die kürzlich in einem Bericht von Deloitte zu den Herausforderungen und Chancen in der globalen Halbleiter-Talentlücke veröffentlich wurden. Demnach wurden 2021 etwa 80% aller Chips in den vier Ländern Taiwan, China, Südkorea und Japan produziert.
Welche Faktoren bei der Halbleiter-Lieferantenwahl entscheidend sind
Bei der Auswahl von Halbleiterlieferanten spielt das Herstellungsland bzw. der Sitz des Herstellers eine vergleichsweise geringe Rolle – viel wichtiger sind wirtschaftliche Faktoren: 93 Prozent bezeichnen das Preis-Leistungs-Verhältnis als „sehr wichtig“. 80 Prozent sagen dies über kurze Lieferzeiten und 69 Prozent über die Liefertreue. Deutlich geringer sind die Werte für Kriterien, die auf die Reputation des Lieferanten oder geopolitische Spannungen und Handelskonflikte abzielen: 45 Prozent halten die Reputation des Lieferanten für „sehr wichtig“, 44 Prozent das Herstellungsland und 38 Prozent den Sitz des Herstellers. Dazu Wintergerst: „Es ist verständlich, dass Unternehmen, die auf Halbleiter angewiesen sind, vor allem solche Lieferanten wählen, die günstig sind und pünktlich liefern. Halbleiter stehen aber auch im Zentrum starker geopolitischer Interessen. Wir sollten daher in Deutschland und Europa ein komplettes Ökosystem von Unternehmen rund um Halbleiter aufbauen. So können wir Abhängigkeiten reduzieren und sind im Fall der Fälle weniger erpressbar.“
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Was die Politik laut Befragten gegen die Halbleiterkrise tun könnte
96 Prozent stimmen der Aussage zu, Deutschland solle die Förderung der heimischen Halbleiter-Industrie ausweiten. Gefragt danach, für welche Ziele eine Erhöhung der inländischen Produktion wichtig ist, werden sowohl Wettbewerbsfähigkeit (100 Prozent), technologische Souveränität (94 Prozent) und die nationale Sicherheit (93 Prozent) als besonders wichtig benannt. Wintergerst: „Die digitale Wirtschaft, insbesondere Unternehmen in den Bereichen Telekommunikation und Cloud Computing, sind ebenso auf Nachschub angewiesen wie klassische Industriezweige wie der Automobil- oder Maschinenbau.“
Die überwiegende Mehrheit (94 Prozent) der Unternehmen, die Halbleiterbauelemente oder -komponenten einsetzen, hält darüber hinaus steuerliche und förderpolitische Anreize für Aufträge an Hersteller in Europa für eine besonders wichtige staatliche Maßnahme. 86 Prozent befürworten die Förderung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Chipindustrie. 82 Prozent sprechen sich für die Förderung von mehr Transparenz über die Verfügbarkeit von Halbleitern und Halbleiter-Lieferketten aus. 81 Prozent fordern steuerliche und förderpolitische Anreize für Investitionen beispielsweise in Chip-Design und -Produktion. Aber auch der Fachkräftemangel ist ein gravierendes Problem für den Halbleiterstandort Deutschland, dem aus Sicht von 73 Prozent der Unternehmen durch eine gezielte Förderung der Zuwanderung von Fachkräften im Bereich der Mikroelektronik begegnet werden muss.
„Deutschland muss die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte weiter erleichtern. Dazu braucht es durchgängig digitalisierte und unbürokratische Verwaltungsprozesse. Diese sind zum Teil noch so aufwändig, dass sie die Bemühungen, Spitzenkräfte nach Deutschland zu holen, faktisch konterkarieren“, kritisiert Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst. „Halbleiter- und Mikroelektronikspezialistinnen und -spezialisten können sich ihre Jobs weltweit aussuchen. Wenn wir wollen, dass sie nach Deutschland kommen und hier für Wohlstand sorgen, dann müssen wir Deutschland auch als Lebensmittelpunkt für diese Menschen wirklich attraktiv machen.“ Um gleichzeitig den inländischen Nachwuchs zu stärken, brauche es zudem Ausbildungszentren und Weiterbildungsmaßnahmen mit einer stärkeren Einbindung der Halbleiterindustrie direkt vor Ort. Insgesamt sind die Halbleiteranwender in Deutschland mit den Bemühungen der Politik noch nicht zufrieden: 92 Prozent sagen, es werde zu wenig getan, um die Versorgung mit Halbleitern sicherzustellen.
Kann Europa den Vorsprung Asiens aufholen?
Dennoch geben die Unternehmen den internationalen Wettlauf nicht auf: Zwei Drittel (69 Prozent) glauben, dass Europa den technologischen Vorsprung asiatischer Länder in der Halbleiterproduktion noch aufholen kann - 27 Prozent glauben das nicht.
Wintergerst: „Die EU-Kommission hat in diesem Jahr hohe staatliche Beihilfen für Investitionen in innovative Fertigungskapazitäten entlang der Halbleiter-Wertschöpfungskette zugelassen. Damit sorgt sie für mehr Chancengleichheit im Wettbewerb mit führenden Chip-Nationen in Asien oder den USA.“ Im Schulterschluss von Politik und Wirtschaft könne Europa das im Chips Act formulierte Ziel erreichen, den europäischen Weltmarktanteil in der Halbleiterproduktion bis 2030 auf 20 Prozent zu verdoppeln.„Der Bedarf an Chips steigt stetig. Deutschland und Europa müssen und können schnell eigene Kernkompetenzen aufbauen, um handlungsfähig und unabhängiger zu werden.“
Welche strategischen Maßnahmen Unternehmen gegen den Chip-Mangel treffen
Viele Unternehmen, die Halbleiter einsetzen, haben sich auf die anhaltende Chipknappheit eingestellt und strategische Maßnahmen ergriffen, um sie abzufedern. Viele dieser Maßnahmen betreffen die Beschaffung selbst: So haben 61 Prozent langfristige Verträge mit Lieferanten oder Zulieferern abgeschlossen. Die Hälfte sucht nach alternativen Lieferanten, zum Beispiel im Ausland (52 Prozent), und fast ebenso viele (47 Prozent) haben eine Multi-Vendor-Strategie etabliert, beziehen ihre Halbleiterbauelemente also von mehreren statt nur von einem Lieferanten. Aber auch im Bereich Design und Aufbau eigenen Know-hows sind viele Unternehmen aktiv geworden: Mehr als jedes dritte Unternehmen (38 Prozent), das Halbleiterbauelemente oder -komponenten einsetzt, hat Produkte einem Re-Design unterzogen und setzt alternativ verfügbare Komponenten ein .Fast jedes fünfte Unternehmen (18 Prozent) baut eigene Kompetenzen für den Entwurf mikroelektronischer Bauelemente auf - und 12 Prozent tun dies für die Herstellung der Halbleiterbauelemente bzw. -komponenten. Auch Forschung und Entwicklung spielen eine Rolle: 15 Prozent kooperieren in Forschung und Entwicklung direkt mit Chipherstellern, jedes zehnte Unternehmen (11 Prozent) beteiligt sich an staatlich geförderten FuE-Projekten. Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst: „Not macht erfinderisch - diese Lebensweisheit gilt auch für die von der Halbleiterknappheit betroffenen Unternehmen. Wer die Krise aktiv angeht und sich mehrere Standbeine aufbaut, wird widerstandsfähiger und bleibt wettbewerbsfähig.