(Korrekturhinweis. d. Red.: Der Artikel erscheint in einer überarbeiteten Version , da die ursprüngliche Fassung Ungenauigkeiten seitens der Redaktion enthielt.)
Die Elektronikindustrie hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Herausforderungen erlebt, die Lieferketten und Marktstrukturen grundlegend verändert haben. In gewohnter Weise legte Dieter Weiss von in4ma in seinem Vortrag auf der electronica 2024 den Finger in die Wunde und erklärte, wie es zur aktuellen Situation in der EMS-Industrie gekommen ist.
Er verdeutlichte seine Analyse mit einem Vergleich zu Beginn der Corona-Zeit im April 2020, als in europäischen Supermärkten kein Toilettenpapier mehr erhältlich war – oder wenn, dann nur zwei pro Person (Allokation). Die sogenannte Toilettenpapierkrise zeigt, wie Angst und Informationsasymmetrien zu massiven Marktstörungen führen können.
Was ist die „Toilettenpapierkrise“?
Der Begriff entstammt der Pandemiezeit 2020, als die Nachfrage nach Toilettenpapier plötzlich explodierte. Nicht etwa, weil der tatsächliche Verbrauch gestiegen wäre, sondern weil Kunden in Panik größere Mengen horteten. Diese Hamsterkäufe lösten eine Kettenreaktion aus: Beobachter schlossen fälschlicherweise auf eine drohende Knappheit und begannen ebenfalls zu horten. Das Ergebnis: künstlich verursachte Engpässe trotz ausreichend vorhandener Ressourcen.
In der Elektronikindustrie zeigte sich ab Februar 2021 ein ähnliches Verhalten. Bedingt durch Stromunterbrechungen in zwei Halbleiterwerken in Texas im Februar 2021 und ein Feuer in einem Halbleiterwerk im März 2021 in Japan kam es zu Engpässen bei der Belieferung mit Mikrocontrollern aus diesen Werken. Dies führte zu der Informationsasymmetrie, es gäbe nicht genügend Halbleiter in allen Bereichen. Allerdings: Andere Halbleiter waren nicht betroffen und Halbleiter sind kein spezifisches Produkt, sondern eine Produktgruppe mit vielen unterschiedlichen Produkten, die bei verschiedenen Unternehmen produziert werden. Doch schon einen Tage nach dem Stromausfall in Texas stiegen vereinzelt die Auftragseingänge bei ersten EMS-Unternehmen um 100 %. Das Gerücht der Chipkrise verbreitete sich aufgrund der globalen Vernetzung der Industrie also rasend schnell und verursachte unmittelbare Reaktionen. So begannen die Unternehmen weit über den tatsächlichen Bedarf hinaus alle verschiedenen Halbleiter zu ordern, um ihre Produktion zu sichern. Diese künstliche Nachfrage verschärfte die Situation weiter und führte zu:
- Längeren Lieferzeiten, da Kapazitäten nicht ausreichten den künstlichen Bedarf zu decken.
- Preisexplosionen bei knappen Komponenten, weil jeder versuchte das auszunutzen.
- Überfüllten Lagern, da tatsächlicher Bedarf und Bestellmengen nicht übereinstimmten.
Die Folgen für die Elektronik-Branche: Massive Störungen in der Lieferkette
In der Folge hatte diese Krise weitreichende Auswirkungen auf die EMS-Branche.
- Vertrauensverlust und „Bottleneck Poker“: Anstelle von stabilen, vertrauensvollen Beziehungen zwischen den Akteuren der Lieferkette (Hersteller, Distributoren, EMS, OEMs), wie sie Weiss mit einer „Lieferanten-Ehe“ vergleicht, entstand ein Klima des Misstrauens und der Angst. Ausgelöst durch die anfängliche Verknappung bestimmter Mikroprozessoren, verfielen die Unternehmen in einen „Bottleneck-Poker“. Jeder versuchte sich durch überhöhte Bestellungen Vorteile zu verschaffen, was die Situation weiter verschärfte und das Vertrauen untereinander untergrub.
- Lagerinflation bei EMS und OEMs: Die überhöhten Bestellungen führten zu einer massiven Verschiebung der Lagerbestände. Während sich die Lager von Herstellern und Distributoren leerten, stiegen die Lagerbestände bei EMS und OEMs auf bis zu 60-65% des Jahresumsatzes an. Diese Situation war besonders problematisch, da gleichzeitig die Zinsen stiegen und die Unternehmen dadurch zusätzlich finanziell belastet wurden.
- Kurzfristiges Umsatzwachstum: In der EMS-Branche kam es zwar zu einem immensen Wachstum – das jedoch nicht auf einer realen Marktnachfrage beruhte. So stiegen in Deutschland die Auftragseingänge in der EMS-Branche im Jahr 2021 massiv um 116%. Allerdings betont Weiss, dass dieses Wachstum nicht nachhaltig war und bereits im Jahr 2023 teilweise zu einem Rückgang der Umsätze führte. Als die Kunden erkannten, dass sie zu viel bestellt hatten, versuchten Sie ihre Aufträge zu stornieren beziehungsweise die Liefertermine nach hinten zu verschieben. Die Lagerbestände bei EMS und OEMs waren überfüllt, und die Nachfrage brach ein. Die versuchten Stornos und Terminverschiebungen belasteten zusätzlich die Beziehungen zwischen EMS und OEMs und verstärkten das Misstrauen in die Lieferkette. Weiss kritisiert das Verhalten der Marktteilnehmer und bezeichnet die Situation als „totales Missverständnis“.
Abkühlung im Jahr 2024: Ein schwieriges Jahr für die EMS-Branche
Weiss zeichnet in seinem Vortrag auf der Electronica 2024 ein düsteres Bild der EMS-Branche im Jahr 2024 – für ihn keine Überraschung. Er prognostiziert einen durchschnittlichen Umsatzrückgang von 9,3% für ganz Europa. Diese Entwicklung begründet er mit den Folgen der künstlich aufgeblähten Nachfrage in den Vorjahren, die zu hohen Lagerbeständen bei den Kunden und teilweise stornierten Aufträgen geführt haben. Auch die Streichung der Förderung für den Kauf von E-Autos im Dez. 2023 hatte Konsequenzen – im Vergleich zu den anderen Effekten allerdings marginal, denn selbst in Deutschland ist der Anteil der Automobilindustrie am EMS-Markt mit 20% überschaubar.
Besonders stark betroffen ist Westeuropa, wo Dieter Weiss einen Rückgang von 12,3% erwartet. Osteuropa wird mit einem Minus von 6% etwas glimpflicher davonkommen. Diese Diskrepanz erklärt er mit dem starken Einfluss der großen EMS-Unternehmen wie Foxconn, Flex und Jabil, die in Osteuropa stark vertreten sind und in 2023 global mit Umsatzrückgängen zu kämpfen hatten. Er betont, dass die Situation je nach Marktsegment und Kundenstruktur unterschiedlich ausfallen wird. Während einige Unternehmen sogar mit einem Wachstum von 20-30% rechnen können, müssen andere Einbußen von 30-40% oder sogar bis zu 50% fürchten.
Entscheidend für die Erholung der Branche ist laut Weiss die Rückkehr zu einer stabilen und vertrauensvollen Lieferkette. Er warnt vor Panikmache du Gerüchten über eine neue Chipkrise, die nur dazu dienen, die Kunden zu überstürzten Käufen zu bewegen. Weiss stellt klar: „Im Moment gibt es keinen Chipmangel. Es gibt überhaupt keinen Chipmangel. Wir müssen nur wieder zu einer normalen stabilem Lieferkette zurückkehren.“ Er appelliert an die EMS-Unternehmen, sich nicht von den Panikmachern verunsichern zu lassen und stattdessen auf eine langfristige und nachhaltige Geschäftsentwicklung zu setzen.
Dieter Weiss gibt auch einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Branche. Er erwartet, dass sich das Geschäft im zweiten Quartal 2025 wieder erholen wird. Er räumt jedoch ein, dass diese Prognose mit Vorsicht zu genießen ist, da die tatsächliche Entwicklung von vielen Faktoren abhängt und es immer Unternehmen gibt, die die Situation ganz anders einschätzen.
Der Autor: Dr. Martin Large
Aus dem Schoß einer Lehrerfamilie entsprungen (Vater, Großvater, Bruder und Onkel), war es Martin Large schon immer ein Anliegen, Wissen an andere aufzubereiten und zu vermitteln. Ob in der Schule oder im (Biologie)-Studium, er versuchte immer, seine Mitmenschen mitzunehmen und ihr Leben angenehmer zu gestalten. Diese Leidenschaft kann er nun als Redakteur ausleben. Zudem kümmert er sich um die Themen SEO und alles was dazu gehört bei all-electronics.de.