Die europäische EMS-Industrie besteht nach Recherchen von in4ma aus ca. 2179 EMS-Werken, die zu 1879 Unternehmen gehören. Dem gegenüber stehen ca. 35.000 bis 40.000 Kunden, die entweder ihre Produktion komplett oder teilweise an EMS-Dienstleister vergeben, oder aber noch alle elektronischen Produkte selbst fertigen und damit als klassische OEM kategorisiert werden. Betrachtet man heute die Produktionsanteile zwischen EMS und OEM, so liegt der Anteil der Elektronikproduktion durch EMS-Dienstleister bei ca. 39%. Darin schlummert noch ein enormes Potenzial für die EMS-Unternehmen. Ihr Vorteil: sie können die Produkte oft preiswerter produzieren. Gerade in Deutschland, dem größten Elektronikmarkt in Europa, sind jedoch viele (OEM-)Familienunternehmen sehr konservativ in Bezug auf diesen Schritt und begründen dies mit ihrer sozialen Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern. Dementsprechend sind sie sogar gewillt, bis zu 10% höhere Produktionskosten im eigenen Haus zu akzeptieren. Der Haken dabei: Der Gedankengang ist nicht zu Ende gedacht. Warum das so ist, erfahren Sie hier.
Warum auch KMUs ihre Produktion an EMS auslagern sollten
Der Transfer von Produkten aus dem eigenen Haus hin zu einem EMS-Dienstleister bedeutet nicht automatisch, dass Unternehmen eigene Mitarbeiter entlassen müssen und man in einem Asset Deal die Produktionsanlagen verkaufen. (Lesen Sie auch: Welche Überbrückungsfinanzierung es für KMUs gibt)
Die letzten Beispiele, bei denen genau das Gegenteil passiert ist, zeigen die Richtung auf. So hat die Katek Gruppe 2020 die Elektronikproduktion des Feinmechanik-Spezialisten HUF Hülsberg & Fürst GmbH & Co. KG in Velbert mit ca. 150 Mitarbeitern übernommen und neben den Maschinen die Produktionsmitarbeiter übernommen. Heute ist das Werk voll integriert in die Katek Gruppe und HUF ist begeistert von dieser Entscheidung. Natürlich übernimmt man dabei nicht den kompletten administrativen Bereich, denn genau hier kommt der Vorteil eines EMS-Unternehmens mit einer schlanken Administration zum Tragen, die letztlich zu geringeren Kosten und damit attraktiven Preisen für die OEMs führen. Auch Osram hat Anfang 2021 diesen Schritt mit seinem Elektronikwerk in Plovdiv/Bulgarien getan und das komplette Werk an Sanmina übertragen.
2021 hatte der schwedische OEM Pricer mit zwei eigenen Produktionswerken in Fernost zur Herstellung digitaler Preisanzeigen für den Einzelhandel keine Kapazität mehr für weitere Produktionsausweitung. Die Entscheidung „Make or Buy“ fiel nicht schwer, denn das Unternehmen wollte nicht noch mehr Kapital in ein weiteres Werk binden und zudem wurde die zusätzliche Kapazität kurzfristig benötigt. Da diese zusätzliche Kapazität für den europäischen Markt benötigt wurde, war schnell klar man würde einen europäischen EMS suchen, denn einerseits wollte man die Produkte aus Umweltgründen nicht um den halben Globus schicken, andererseits erkannte man aber auch, dass die Produktion bei einem EMS in Europa nicht teurer war als die Produktion in Fernost. Nach ordentlicher Prüfung entschied man sich für die Zollner Elektronik AG.
Die Geschichte hat dazu viele weitere Beispiele, die teilweise auch schon länger zurückliegen. So z.B. 2009 den Transfer des Sony TV-Werks in Niš/Slowakei an Foxconn oder den Transfer des Sony Elektronik Reparaturwerks im Elsass an einen ehemaligen Mitarbeiter, Serge Cordon. Heute hat die Cordon Gruppe sich durch Spezialisierung auf die Reparatur und Erneuerung, aber auch Herstellung unter die TOP 30 der Europäischen EMS Unternehmen mit einem Umsatz von 262 Mio. Euro, 2800 Mitarbeitern und 26 Standorten weltweit hochgearbeitet.
Welche Vorteile die Umstellung der Produktion auf einen EMS-Dienstleister mit sich bringt
Die Umstellung der Produktion auf einen EMS-Dienstleister hat erhebliche Vorteile. So sinkt beim OEM die Anlagenintensität und der Kapitalbedarf für die Produktion immer genügend Investitionen tätigen zu müssen. Ebenfalls sinkt der Personalbedarf und gerade in Zeiten der Personalknappheit ist man als OEM eine Sorge los. Ein noch größerer Vorteil sind die Engineering-Abteilungen der EMS-Dienstleister, die täglich mit neuen Herausforderungen aus verschiedensten Marktbereichen konfrontiert werden und damit ein viel breiteres Know- how besitzen als OEM interne Engineering Bereiche, die nur auf die eigenen Produkte fixiert sind. Beim EMS entstehen hier laufend Synergien, die zur Produktverbesserung oder Produktionsoptimierung umgesetzt werden können.
Wieso gibt es dann noch inhouse Fertigungen? Neben dem eingehend genannten Grund des Gedankens der sozialen Verantwortung ist es einfach nur fehlende Überzeugung der OEMs. Hier setzt die Arbeit der Marketing- und Vertriebsmitarbeiter bei den EMS Unternehmen an. Dies haben viele Unternehmen jedoch in sehr vielen Fällen bisher extrem vernachlässigt. So haben mehr als die Hälfte der EMS Unternehmen – insbesondere die kleineren EMS – überhaupt keinen Außendienst/Vertrieb, der die Vorteile der Produktionsverlagerung erklärt. Dies ist dann Aufgabe des Geschäftsführers, der natürlich kaum Zeit hat, neben seinen eigentlichen Aufgaben auch noch zu potenziellen Kunden zu fahren. Also beschränkt man sich auf eine Homepage, die meist auch noch schlecht gepflegt wird und hofft, dass die Bestandskunden auch weiterhin anrufen.
Noch schlimmer ist es um die Marketingabteilungen bestellt. Hier beschränkt sich das Aufgabengebiet vielfach auf die Organisation von Messebeteiligungen, die Entwicklung von Printmedien bzw. Internetauftritten und das Bestellen von Streuartikeln. Professionelle Marketingarbeit sieht anders aus. Zudem kennen viele Marketingabteilungen den digitalen Einkaufsführer EMS Scout noch immer nicht. Dieser digitale Einkaufsführer, in dem fast alle EMS Unternehmen in Europa gelistet sind (Frankreich, Italien und Spanien werden derzeit noch hochgeladen), bietet enorme Vorteile für die OEMs bei der Auswahl des richtigen Dienstleisters. So kann jetzt bereits jeder OEM eine Umkreissuche starten, wenn ihm die Nähe des Dienstleisters zum eigenen Unternehmen wichtig ist.
Allerdings müssen die EMS-Unternehmen dazu zusätzliche Informationen in den Einkaufsführer einpflegen, die es den potenziellen Kunden erlaubt, noch genauer zu suchen. Dies sind z. B. Zertifizierungen, durchschnittliche Losgrößen, Fertigungsmöglichkeiten, vorhandene Fertigungsverfahren u.v.m. Diese Angaben pflegt EMS Scout für eine kleine Bearbeitungsgebühr ein und schaltet sie gegen eine jährliche Gebühr frei. Alles in allem eine Investition von deutlich unter eintausend Euro, die den EMS mittelfristig mehr Kunden bringt, wenn die Angebotspalette stimmt.
Der EMS Scout ist neben den vielen qualifizierten EMS Unternehmen auf der electronica in Halle A1 Stand 555 vertreten.
Wie geht es mit der europäischen EMS-Industrie weiter und welche Rolle spielt die Automobilindustrie?
Wie geht es aber weiter mit der EMS-Industrie? Wer dazu die allgemeine Entwicklung der Industrie heranzieht, liegt vollkommen daneben. Während einige Unternehmen aufgrund diverser makroökonomischer Probleme mit Umsatzeinbußen rechnen, rechnet das Marktforschungsunternehmen in4ma mit einem Umsatzwachstum 2022 der europäischen EMS-Industrie in Höhe von 15,4%. In Westeuropa rechnet man sogar mit einem noch höheren Wachstum. Wie passt das aber zusammen mit den in der Presse laufend diskutierten Problemen mit der Halbleiterversorgung? Der Bedarf an Halbleitern ist nach der Corona-Pandemie auch durch den Peitschenhieb-Effekt (Bull-Whip Effekt) massiv gestiegen. Dieser besagt, dass schon kleine Nachfrageschwankungen beim Endkunden exponentiell zunehmende Bedarfsschwankungen beim Vorlieferanten auslösen können. Das Besondere daran: Je länger die Lieferkette und je weiter man vom Kunden entfernt ist, desto stärker wirken sich diese Schwankungen aus.
Obwohl die Halbleiter-Industrie 2021 21,6% mehr Produkte produziert und geliefert hat, konnte damit der aufgeschaukelte Bedarf an Halbleitern nicht befriedigt werden. Dementsprechend besteht zwischen dem Umsatzwachstum in der EMS-Industrie, teilweise auch getrieben durch die Weitergabe erhöhten Einkaufskosten, und der Materialverfügbarkeit keine Diskrepanz. Es sind einzelne Bereiche, insbesondere in der Automobil-Industrie, die nicht unbedingt die neuesten Halbleiter-Technologien einsetzen, die hier Probleme bereiten und für Schlagzeilen sorgen. Der Gesamtbedarf an Halbleitern für die Automobil-Industrie macht jedoch trotz der Umstellung auf E-Motoren noch immer weniger als 10% aus. Zudem ist die Automobil-Industrie auch laufend in den Schlagzeilen dafür, dass sie prinzipiell Mehrkosten, die vertraglich nicht vereinbart sind, nicht akzeptiert und auf Einhaltung der Lieferverträge beharrt, ungeachtet, ob sie damit einen Zulieferer in die Insolvenz treibt oder nicht. Dass die EMS-Industrie dann nicht besonders darauf erpicht ist, solche Geschäftspartner bevorzugt zu beliefern, muss nicht verwundern. Wer sich aber der Automobil-Industrie mit einem hohen Anteil an der Produktion verschrieben hat, hatte nicht nur 2020 einen starken Umsatzeinbruch, sondern viele haben es bis heute nicht geschafft, auf das Umsatzniveau von 2019 zurückzukommen.
Der Autor
Dieter G. Weiss, EMS-Scout/In4ma